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Wer war Martius?

Der Botaniker und Forschungsreisende Carl Friedrich Philipp Martius bereiste zwischen 1817 und 1820 gemeinsam mit dem Zoologen Johann Baptist Spix Brasilien. Über diese Reise und die gesammelten Berichte ist im November 2020 ein neues Buch von Dr. Markus Wesche erschienen. Ein Gespräch über Martius' Leistungen für die Wissenschaft bis heute, aber auch seine Haltung zum Kolonialismus und Sklavenhandel sowie seinen Rassismus - entlang des Martius-Denkmals im botanischen Garten München-Nymphenburg, in unserer Reihe "Erinnerungskultur".

Zum Inhalt: Die zwei Seiten von Martius

Im Jahre 1817 unternahmen der Zoologe Spix und der Botaniker Martius im Auftrag von König Maximilian I. von Bayern eine Forschungsreise nach Brasilien. Die Sammlungen und Ergebnisse dieser Reise spielen bis heute eine wichtige Rolle in der Botanik und Zoologie, da manche Spezies heute nicht mehr existieren. Für ihre Verdienste wurden die beiden 1820, nach ihrer Rückkehr nach München, geadelt und zu Mitgliedern der Akademie ernannt.

Im Botanischen Garten in München-Nymphenburg findet sich heute ein Denkmal für Martius, den großen Botaniker und ehemaligen Direktor des Alten Botanischen Gartens. Doch wenn man die ganze Geschichte zu seiner Reise hört, entspricht sie nicht mehr ganz dem Bild des ruhmreichen Forschers. Von Spix' Aufzeichnungen zur Reise ist heute wenig erhalten. Durch Martius' unzählige Briefe, die seine Eindrücke unterwegs unmittelbar beschreiben, haben wir heute aber nicht nur ein genaues Zeugnis der Umstände der Reise, es lässt sich auch Einiges über den Menschen Martius ablesen: seine Haltung zum Kolonialismus und Sklavenhandel in Brasilien, seinen offenen Rassismus oder seine Vorstellungen von "roher Natürlichkeit" indigener Menschen in Abgrenzung zur (europäischen) Zivilisation. Der Podcast orientiert sich dabei an Markus Wesches Buch "Zwei Bayern in Brasilien. Johann Baptist Spix und Carl Friedrich Philipp Martius auf Forschungsreise 1817 bis 1820", das im November 2020 erschienen ist. Die Briefe werden in diesem erstmals vollständig herausgegeben.

Auch die Einflüsse auf Martius' Denken, wie die Theorien des Botanikers Carl von Linné oder des berühmten Philosophen und Akademiemitglieds Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling sind bei einer Annäherung an die Frage "Wer war Martius?" interessant. In der Akademie gingen die Ansichten auseinander, erkennbar etwa an der Arbeit des Anatomen Samuel Thomas von Soemmerring und, dem entgegen, der Haltung von Johann Wolfgang von Goethe.

Martius' Leistungen für die Wissenschaft sind unbestreitbar: "Die Ausbeute der Reise", so die Deutsche Biographie, "kam vollständig und unversehrt in München an und umfaßte, von Mineralien, Gesteinsproben und ethnographischen Gegenständen abgesehen, 85 Arten Säugetiere, 350 Arten Vögel, 130 Amphibien. 2700 Insekten, 50 Arachniden, 50 Crustaceen und 6500 Pflanzenarten. Die Pflanzensammlung war so reichhaltig, daß neben der in München verbliebenen Hauptsammlung noch Dupla an die Herbarien in Berlin, Wien, Petersburg, London (Brit. Museum), Leiden, Genf und Leipzig abgegeben werden konnten."

Auch darunter waren jedoch zwei indigene Kinder: "Von insgesamt acht Kindern aus unterschiedlichen Völkern kamen letztlich nur zwei, Miranha und Juri, in München an [...] Die Kinder Juri und Miranha wurden auf die katholischen Namen Johannes und Isabella getauft und sollten nach hiesigen Vorstellungen erzogen werden. Sie blieben ihrer neuen Umgebung gegenüber aber teilnahmslos, wurden bald krank und starben im Alter von jeweils etwa 14 Jahren kurz nacheinander. Für die auf dem Alten Südfriedhof gelegene Grab­stätte schuf Johann Baptist Stiglmaier (1791-1844) im Auftrag von Königin Karoline (1776-1841) ein Reliefbild, das die Kinder zeigt, denen der kalte Nordwind 'Borea' die Lebensgeister ausbläst." Vgl. Markus Riederer. "Carl Friedrich Philipp von Martius (1794-1868). Ein bayerischer Tropenforscher des 19. Jahrhunderts." In: Dieter Willoweit (Hrsg.) Denker, Forscher und Entdecker. Eine Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in historischen Porträts. C.H. Beck, München 2009, S. 77.

Das Grabrelief der beiden verstorbenen Kinder findet sich heute im Münchner Stadtmuseum. Das Martius-Denkmal steht weiterhin im botanischen Garten in München-Nymphenburg. Dessen langjährige Direktorin Prof. Dr. Susanne S. Renner gibt im Podcast Auskunft über das Denkmal und den Umgang mit diesem im Sinne der Erinnerungskultur. Wie erfasst man einen Menschen wie Martius? Wie soll man sich an ihn erinnern?

 

Wer spricht:

Dr. Markus Wesche ist Historiker und Philologe. Nach dem Studium (Geschichte, Mittellatein und Germanistik) in Bonn und München arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Dort betrieb er die Digitalisierung der Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters.

Prof. Dr. Susanne S. Renner, Professorin für Systematische Botanik und Mykologie an der LMU München und Direktorin des Botanischen Gartens München-Nymphenburg, seit Kurzem im Ruhestand, ist ordentliches Mitglied der BAdW und Vizepräsidentin.

Der kurze Wortbeitrag des Historikers und Afrikawissenschaftlers Prof. Dr. Jürgen Zimmerer von der Universität Hamburg, entstammt unserer Online-Veranstaltung "In Stein gemeißelt? Erinnerungskultur im öffentlichen Raum" vom 2.12.2020, die Sie ebenfalls (als Video) in unserer Mediathek finden.

Podcast-Einführung und Interview: Dr. Laura Räuber, Referentin für Digitale Kommunikation an der BAdW, Foto: Martius-Denkmal im Botanischen Garten München-Nymphenburg.

Nachtrag von Markus Wesche zur Frage, wie rassistisch die brasilianische Bevölkerung heute sei:

"Seit mehr als zweihundert Jahren ist die brasilianische Gesellschaft faktisch eine multi- und gemischtrassige, in der vor und nach der endgültigen Abschaffung der Sklaverei im Jahre 1888 die Hautfarbe allein keine offene Diskriminierung der Menschen bedeutete, anders als in der nordamerikanischen Sklavenwirtschaft, deren starke Rassensegregation bis in die 1960er Jahre andauerte. Sozialökonomisch gesehen waren schwarze Brasilianerinnen und Brasilianer jedoch allgemein weniger gut gestellt; fragt man sie heute, ob sie sich in der Heimat benachteiligt fühlen, werden sie dies oft und lebhaft bejahen – und mehr als die Hälfte der 211 Mio. Brasilianer:innen hat schwarze Wurzeln.

Die "Black Lives Matter"-Bewegung, durch Polizeimorde in den USA neu aufgeflammt, hat allerdings am 19. November nach den Totschlag am 40-jährigen Schwarzen João Alberto Silveira Freitas in einem Kaufhaus in Porto Alegre durch weiße Sicherheitskräfte auch in Brasilien starken Widerhall gefunden und öffentliche Demonstrationen in brasilianischen Großstädten entfacht, Videos von der Tat hatten sich ausgerechnet am "Dia da Consciência Negra" am 20. November, dem Gedenktag an die jahrhundertelange Sklaverei, verbreitet. Die Behauptung des brasilianischen Vizepräsidenten Hamilton Mourão, "Für mich gibt es keinen Rassismus in Brasilien", ist folglich so wahr wie fragwürdig. Die volle Wucht bekommt das Ereignis allerdings erst durch die Filmung der Tat durch eine Angestellte des Kaufhauses, als Zeugnis der Niedertracht und Heimtücke, dazu der Beitrag des Fernsehsenders 'Rede Globo'."

 

Mehr zum Podcast-Thema

 
Über Martius

Markus Wesche. In den Palmen wirst du auferstehen. Beitrag über die Brasilienreise in unserer Zeitschrift "Akademie Aktuell" (1/2019)

Dietmar Willoweit (Hrsg.) unter Mitarbeit von Ellen Latzin: Denker, Forscher und Entdecker. Eine Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in historischen Porträts. C.H. Beck, München 2009, Open Access - Der Beitrag zu Martius, von Markus Riederer, findet sich auf S. 69-86.

Dietmar Willoweit (Hrsg.) unter Mitarbeit von Tobias Schönauer: Wissenswelten. Die Bayerische Akademie der Wissenschaften und die wissenschaftlichen Sammlungen Bayerns. Ausstellungen zum 250-jährigen Jubiläum der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Katalog. München 2009.

Viagem de Spix e Martius pelo Brasil/Spix und Martius: Reisebetrachtungen aus Brasilien. Begleitheft zur Ausstellung vom 6. Februar – 9. März 2019, Ibero-Amerikanisches Institut (IAI), kuratiert von Prof. Dr. Karen Macknow Lisboa und Prof. Dr. Willi Bolle (beide Universidade de São Paulo).

Ana Paula Orlandi. Humboldts Spuren in Brasilien. Goethe Institut Venezuela.

Flora Brasiliensis. Online-Projekt, Englisch/Portugiesisch

Carl Friedrich Meissner. Denkschrift auf Carl Friedr. Phil. von Martius. 1869 Franz, München. Digitalisat.

Karl von Goebel. Zur Erinnerung an K. F. Ph. v. Martius. Gedächtnisrede bei Enthüllung seiner Büste im K. Botanischen Garten in München am 9. Juni 1905. Verl. der K. B. Akad. der Wiss., München, 1905. Digitalisat.

Von Martius

Carl Friedrich Philipp von Martius. Von dem Rechtszustande unter den Ureinwohnern Brasiliens. Eine Abhandlung, gelesen in der öffentlichen Sitzung der Königl. Bayer. Akademie der Wissenschaften, zur Feier ihres dreiundsiebzigsten Stiftungstages am 28. März 1832. Digitalisat.

Carl Friedrich Philipp von Martius. Über den Stand der von ihm herausgegebenen Flora Brasiliensis. Sitzungsbericht der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 1866. Digitalisat.

Über Brasilien heute

Corona im Amazonas. Indigene in Brasilien gefährdet. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4.12.2020.

Proteste gegen Rassismus in Brasilien. Tagesschau.de vom 21.11.2020.

Brasiliens George Floyd. Süddeutsche Zeitung vom 21.11.2020.

Wissenschaft und Kunst als Brücke zwischen Brasilien und Deutschland. Zum Projekt "From Bavaria / Germany to São Paolo / Brazil: The Making of Science, Arts, and Knowledge in an Entanglement Perspective". Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt. 16.10.2019.

Über (Post-)Kolonialismus und Rassismus 

Jean-Christophe Victor. Die Entstehung des Rassismus. Video zur Geschichte des Rassismus, u.a. mit der im Podcast erwähnten Arbeit von Carl von Linné und Johann Friedrich Blumenbach. Bundeszentrale für politische Bildung/arte 2012.

Marianne Bechhaus-Gerst. Medizingeschichte: Wie die Medizin der Aufklärung „den Afrikaner“ schuf. Dtsch Arztebl 2011. Zum im Podcast erwähnten Akademiemitglied Samuel Thomas Soemmerring.

Grit Eggerichs. Das Ende der Sklaverei in Brasilien. Deutschlandfunk. 13.5.2018.

Das Denken dekolonisieren. Rassismus bei Immanuel Kant. Zur Debatte um Rassismus bei Kant. Deutschlandfunk Kultur vom 13.09.2020.

Kant ein Rassist? Interdisziplinäre Diskussionsreihe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW)

Jürgen Zimmerer. „Es fehlt der politische Wille, koloniale Raubkunst zu restituieren“. Deutschlandfunk Kultur zur Eröffnung des Humboldt Forums, vom 15.12.2020.

Jürgen Zimmerer. Expansion und Herrschaft: Geschichte des europäischen und deutschen Kolonialismus. Bundeszentrale für politische Bildung. 23.12.2012.

Patricia Purtschert. Postkolonialismus und intellektuelle Dekolonisation. Bundeszentrale für politische Bildung. 16.1.2017.

Bernhard Schär. Wissenschaft und Kolonialismus. Bundeszentrale für politische Bildung. 20.5.2016.

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    Begrüßung und Eckdaten zu Martius
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    Recherche zum Buch und Aufbau
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    Grund für die Brasilienreise
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    Bedeutung wissenschaftlicher Zeichnungen
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    Mitgeführte Instrumente
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    Beitrag für die Wissenschaft
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    Einspieler Prof. Dr. Susanne S. Renner: Martius&
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    Beitrag für die Wissenschaft
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    Flora Brasiliensis
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    Kurze Geschichte Brasiliens
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    Eurozentrische Perspektive
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    Gegenwart Brasiliens
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    Einfluss Carl von Linnés auf Martius
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    Einfluss Johann Friedrich Blumenbachs
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    Einfluss Friedrich Wilhelm Joseph Schellings auf Martius
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    Mitgeführte Schädel von Afrikaner*innen
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    Die Arbeit von Samuel Thomas von Soemmering
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    Gegenwind durch Johann Wolfgang von Goethe
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    Polygenese und Monogenese
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    Martius Haltung zur Sklaverei
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    Gegenläufige Haltung in Martius&
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    Einspieler: Prof. Dr. Jürgen Zimmerer über Humboldt
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    Grabrelief der beiden Kinder in München
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    Unveröffentlichtes Schriftstück von Martius
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    Die zwei Seiten von Martius
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    Martius-Denkmal im botanischen Garten (Prof. Dr. Renner)
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    Resümee: Wer war Martius?
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    Verabschiedung

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