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25/03

Strafrecht und Medizin im Blickfeld des späten Storm. Seine letzten Erzählungen

 

 

25/03
19. Januar 2004

Öffentlicher Vortrag von Walter Müller-Seidel,

ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Emeritierter ordentlicher Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte,

Ludwig-Maximilians-Universität München am 12. Januar 2004 um 19 Uhr im Plenarsaal der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Dem Sieg über Frankreich im Krieg von 1870/71 hat Nietzsche keine gute Zukunft vorausgesagt. Er war der Auffassung, dass dieser Sieg sich in sein Gegenteil verkehren könnte: in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des 'deutschen Reiches'". Das ist so nicht geschehen. Der weithin sichtbare Aufstieg in Gesellschaft und Wissenschaft ist unbestritten. Zwischen 1870 und 1914 ... verwandelte sich Deutschland von einer relativ rückständigen und agrarischen Nation zu einer der ersten Industriemächte der Welt“ (Fritz K. Ringer). Aber wenigstens partiell hat Nietzsche recht behalten, sieht man auf die mit dieser Entwicklung einhergehende Siegermentalität, die humanem Denken wenig förderlich war. Gegengewichte entstehen vor allem in der Literatur, weniger unter den macht- und fortschrittsbewussten Naturalisten als unter Spätrealisten wie Storm, Fontane und Raabe. Diese Autoren sind Skeptiker auf ihre Art. Sie entdecken Schopenhauer, den Treitschke wie Freytag verachten. Sie befassen sich mit Richtern und Henkern und widersprechen der im Strafrecht verankerten Todesstrafe, die man 1870 beinahe abgeschafft hätte. Unter den genannten Schriftstellern ist Storm am nachhaltigsten am Fortgang der Wissenschaften interessiert. Mit namhaften Gelehrten wie Theodor Mommsen, Erich Schmidt oder dem jungen Ferdinand Tönnies steht er im Briefwechsel. Juristen wie Ärzte sind wiederkehrende Gestalten in seiner Verwandtschaft wie in seinem literarischen Werk. Aber das hindert ihn nicht, in seinen Erzählungen Fragen aufzuwerfen, die dem zeitgemäßen Erfolgsdenken nicht unbedingt entsprechen. Auch den nicht Erfolgreichen und Gestrauchelten gilt seine Aufmerksamkeit - wie in der Erzählung "Ein Doppelgänger", die von einer scheiternden Resozialisation handelt. Die Novelle "Ein Bekenntnis" bringt mit dem Problem "Tod auf Verlangen" medizinisch-juristisches Wissen zur Sprache. Nicht wenige dieser Erzählungen sind Abwärtsgeschichten, wie man sie nennen könnte, und wo es sich, wie in der letzten Erzählung "Der Schimmelreiter", noch einmal um eine gute alte Aufstiegsgeschichte zu handeln scheint, nimmt man Gebrochenheit wahr. Durch alle diese späten Erzählungen geistert das Phänomen des Unheimlichen, das an den Maler Johann Heinrich Füßli wie an den Erzähler E.T.A. Hoffmann erinnert und zugleich auf Freuds berühmten Traktat vorausweist. Aber vorausweisend erst recht ist das ausgeprägte Interesse für die Wissenschaften des Strafrechts und der Medizin - für dieselben, die aus dem Kontext moderner Literatur nicht mehr wegzudenken sind.