Artifizieller Klangrausch: Die Edition der Werke von Richard Strauss
Der gebürtige Münchner Richard Strauss (1864–1949) zählt zu den bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Er war hochproduktiv – und auch international sehr erfolgreich. Seine Kompositionen wurden unmittelbar nach ihrer Entstehung gedruckt und schnell verbreitet – auch mit Fehlern, die niemand korrigierte. Für sein Lebenswerk lag bis vor Kurzem keine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende, quellenkritische Ausgabe vor.
„Kritische Ausgabe der Werke von Richard Strauss“
Seit 2011 erschließt das Akademieprojekt „Kritische Ausgabe der Werke von Richard Strauss“ sein umfangreiches Œuvre in all seinen Facetten und Fassungen und stellt es neu ediert der Musikwelt zur Verfügung – gedruckt und auch online. Das Langzeitprojekt der Bayerischen Akademie der Wissenschaften steht unter der Leitung von Prof. Dr. Hartmut Schick am Institut für Musikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Die Strauss-Ausgabe ist eines von insgesamt 18 Projekten des Akademieprogramms, die die Werke deutschsprachiger Komponisten edieren. Dank dieser Editionsprojekte können die großen Meister der Musik umfassend erforscht und in bestmöglicher Form neu gehört und aufgeführt werden.
Virtuose Kompositionen
Was zeichnet das Werk von Richard Strauss aus? Die Antwort in wenige Worte zu fassen, gelingt Projektleiter Schick: „An Richard Strauss fasziniert die unglaubliche Virtuosität der Kompositionen sowie des Komponiervorgangs. Er beherrschte sein Handwerk perfekt. Mit traumwandlerischer Sicherheit schrieb er hyperkomplexe Partituren nieder. Und er brachte jedes Orchester zum Leuchten. Zugleich gelang es ihm, modern zu schreiben und dennoch ein großes Publikum anzusprechen. Bis heute sind Werke wie Don Juan, Till Eulenspiegel, Salome, Elektra oder Rosenkavalier Highlights im Konzert- und Opernleben.“
Das Akademieprojekt erfasst und erforscht nicht das gesamte Lebenswerk von Richard Strauss, aber doch den größten Teil. Dazu zählen die Bühnenwerke, genuinen Orchesterwerke, Lieder und Gesänge (mit Klavierbegleitung und mit Orchester). Auch die kammermusikalischen Werke sowie Fragmente, unterschiedliche Fassungen und eigene Klavierarrangements werden ediert, nicht aber Skizzen und Entwürfe. Die Basis hierfür bilden das Richard-Strauss-Quellenverzeichnis (RSQV) am Richard-Strauss-Institut Garmisch-Partenkirchen, ein Online-Katalog mit derzeit über 13.000 Datensätzen, sowie die gesamte, über die Welt verstreute Korrespondenz.
Spannende Editionsarbeit
Tag für Tag leistet das Forschungsteam mit sechs wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wahre Detektivarbeit: Sie recherchieren, beschreiben und vergleichen Quellen, identifizieren Fehler und erklären im Kritischen Bericht, wo und warum sie etwas gegenüber der Leitquelle verändert haben. „Bei der Editionsarbeit sehen wir, wie viel Genialität, Intuition und Arbeit in den Strauss’schen Werken steckt“, erläutert Schick. „Es ist unglaublich spannend, immer wieder neue Varianten, alternative Fassungen oder Revisionen zu entdecken. Wenn wir uns so intensiv mit den Noten beschäftigen, haben wir das Gefühl, neben einem echten Genie zu sitzen.“
Erst wenn die Fassung letzter Hand erstellt und durchkorrigiert ist, gehen die Notenbände mitsamt Einleitung, neugesetzten Partituren und Kritischem Apparat (in dem die Quellen beschrieben, bewertet und verglichen werden) in den Druck. Die gesamte Edition wird zum Projektende im Jahr 2035 ca. 50 Bände umfassen. Sie erscheint im Verlag Dr. Richard Strauss, in Zusammenarbeit mit Boosey & Hawkes, Edition Peters Group und Schott Music. Zehn schwere Notenbände sind bereits erschienen, zwei weitere folgen noch in diesem Jahr.
Von der Forschung in die Musikpraxis
Die neuen Notenbände dienen nicht nur als Grundlage für künftige Aufführungen der Werke, sondern rücken Strauss‘ Werk oft auch in neues Licht, wenn zum Beispiel unbekannte Versionen erstpubliziert werden. So etwa bei der Tondichtung Macbeth, bei der frühen Cellosonate und auch bei der Oper Salome, die auf dem gleichnamigen französischen Drama von Oscar Wilde beruht. Im Sommer 2021 sind erstmals zwei alternative Fassungen des Werks in der Kritischen Ausgabe erschienen: die authentische, französische Salomé-Fassung von 1905 sowie die Dresdner Retouchen-Fassung von 1929/30, beide herausgegeben von Projektmitarbeiterin Claudia Heine.
- Mehr Informationen zu der französischen Salome-Fassung finden Sie in dem Beitrag "Noch niemals in Paris" von Claudia Heine der Akademie Aktuell.
- Zu beiden Salome-Fassungen berichtete außerdem die Süddeutsche Zeitung in dem Beitrag "Salome reloaded".
Salomé und die Dresdner Retouchen-Fassung von 1929/30
Bei Salome wollte Richard Strauss für den französischen Markt mehr als eine bloße (Rück-)Übersetzung vorlegen. Daher griff er auf Oscar Wildes französischen Originaltext zurück und schrieb dazu die Gesangsstimmen vollständig neu, was damals einzigartig war. Diese Fassung als (so Strauss) „richtige französische Oper“ liegt nun erstmals als Partitur gedruckt vor.
Auch die in Vergessenheit geratene Dresdner Retouchen-Fassung von 1929/30 ist nun wieder aufführbar: Hier erschloss Strauss die Solopartie einer lyrischen (statt, wie bislang, hochdramatischen) Sopranstimme, die dem jugendlich-naiven Charakter der Titelfigur weit besser entspricht. Dafür musste er die Orchesterbegleitung stark auslichten und abdämpfen. Auch diese Fassung steht nun als interessante, zeitgemäße Aufführungsoption der Praxis zur Verfügung – und wurde bereits von der Bayerischen Staatsoper und dem Theater Luzern überzeugend umgesetzt.
„Wir wünschen uns natürlich, dass die Strauss-Werke künftig nur noch nur auf der Basis unserer Notentexte aufgeführt werden“, so Schick. „Dazu vergleichen wir erstmals sämtliche zu Lebzeiten entstandenen Quellen und rekonstruieren das Werk so, wie es wohl der eigentlichen und auch letzten Intention von Strauss entsprochen hat, mit Dokumentation aller Varianten.“
Strauss Open Access und online
Ergänzend zu den gedruckten Notenbänden stellt das Akademieprojekt umfassende Informationen auf der Online-Plattform zur Richard Strauss-Ausgabe bereit. Dort finden sich viele werkbezogene Briefe von und an Richard Strauss, frühe Rezensionen sowie Dokumentationen der Gesangstexte zu den Vokalwerken, die anschaulich zeigen, wie Strauss mit den Textvorlagen umgegangen ist. Jeweils ein Jahr nach Erscheinen der Bände stehen auch die Textteile der Bände, von den umfangreichen Einleitungen bis zu den Lesartenlisten, auf der Online-Plattform zur Verfügung. „Ein Service, der auch für Dramaturgen und Journalisten sehr interessant ist“, sagt Schick, „oder für Liebhaber zur Vorbereitung des nächsten Opernbesuchs.“
- Die Arbeit der "Kritischen Ausgabe" würdigte das BMBF jüngst als Projekt des Monats Mai.
- Zum Vorwort der Richard-Strauss-Ausgabe
- Bisher veröffentlichte Bände