Heft 1.2024 IM GESPRÄCH: „Abnehmspritzen“ gegen Adipositas DIGITALER WAN DEL: Sieben europäische Länder im Vergleich GESCH ICHTE: Die Inschriften der Alten Kapelle Regensburg Z u k S c h u n u l e d f t d e e r r S Z c h u k u u l e n f t

1.2024 Editorial Wie muss sich die Schule verändern, um auf die Heraus- forderungen der modernen digitalen Welt vorzubereiten? Liebe Leserinnen und Leser! S ie erinnern sich sicher: Im Jahr 2000 erlebte Deutschland seinen „PISA-Schock“, als die Ergebnisse der ersten OECD-Vergleichsstudie zu den Lernergebnissen der Schü- lerinnen und Schüler in 31 Ländern veröffentlicht wurden. Deutschland blieb damals in den Bereichen Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften unter dem OECD-Durchschnitt. Zwischenzeitlich hatte sich einiges verbessert, doch das Jahr 2023 endete erneut mit einem Paukenschlag: Bei der jüngsten PISA-Studie schnitten die deutschen Kinder und Jugendlichen so schlecht ab wie nie zuvor. Ausgezeichnete Bildung ist eine wichtige Basis für eine stabile Demokratie sowie für Innovation und Wohlstand in unserem Land. Deutschland hat ein international sehr angesehenes Bildungssystem, das jedoch nur verzögert auf die sich rasch ändernden Rahmenbedingungen moderner Industriegesellschaften reagiert. Was müssen Schulen heute leisten, damit gute Bildung gelingt? Welche Veränderungen sind nötig ange- sichts großer Herausforderungen wie der digitalen Transformation, einer zunehmend pluralen Gesellschaft oder der Auflösung alter Ordnungs- und Wertestrukturen? Die vor uns liegenden Aufgaben lassen sich nur interdisziplinär lösen. Wissenschaftlerin- nen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen stellen daher in dieser Ausgabe zentrale Aspekte für ein erfolgreiches, chancengerechtes Bildungssystem vor: Damit wir jetzt die richtigen Weichen stellen für die Schule der Zukunft. Ich wünsche Ihnen eine aufschlussreiche Lektüre! k c e b m e r B t r e b o R ; a d a k i N / k c o t s i : s o t o F P r o f . D r. M a r k u s S c h w a i g e r P r ä s i d e n t d e r B a y e r i s c h e n A k a d e m i e d e r W i s s e n s c h a f t e n A k a d e m i e A k t u e l l 3

1.2024 Inhalt Nr. 82 6 Kurz notiert Nachrichten aus Wissenschaft und Forschung 8 Im Gespräch Der Mediziner Matthias Tschöp über Wirkung und Einsatz- möglichkeiten neuer Medikamente gegen Übergewicht Fokus 12 Zukunft der Schule – Schule der Zukunft 14 Weckruf für die Bildung Warum wir Bildung noch viel ernster nehmen müssen 18 Bildung und Wohlstand Warum wir mehr in Bildung investieren müssen 24 Bildungsgerechtigkeit stärken Maßnahmen für mehr Chancengleichheit im deutschen Schulsystem 28 Demokratie lernen S. 42 | Eine Neuerscheinung dokumentiert die Inschriften der Alten Kapelle Regensburg. 37 Auf den Punkt Heiner Bielefeldt über die unglamouröse Demokratie 38 Lesenswert mit Ulrich Konrad 40 Kurz vorgestellt Fragen an neue Akademiemitglieder Forschung 42 52 Die Welt ordnet sich neu Welche Folgen ergeben sich für die internationale Sicherheitspolitik? 56 Akademie intern 58 Termine / Impressum 60 Lieblingsstück Unser Titelbild zeigt den suchenden Blick, den Claudia Holzinger auf das deutsche Schulsystem wirft. Für „Akademie Aktuell“ hat sich die Künstlerin, Grafikdesignerin und Fotografin mit dem Thema „Zukunft der Schule – Schule der Zukunft“ beschäf- tigt, und zwar an ihrem ehemaligen Gymnasium in Dorfen. In den Installati- onen setzt sie Schule mit Morphsuits sowie Objekten aus Schulton und Fenster- malfarbe in Szene und greift dabei klassische analoge Aspekte des Unter- richts ebenso auf wie die digitalen Entwicklungen der jüngsten Gegenwart, die den Schulalltag zunehmend prägen. Schule als ein zentraler Ort der Einzigartiger Traditionsort politischen Bildung Die Inschriften der Alten Kapelle in 32 Bildungskanon Regensburg 48 für eine digitale Gesellschaft In der Schule müssen Digitaler Wandel Eine Studie zeigt den Stand digitale Grundkompetenzen der Digitalisierung in Deutschland vermittelt werden und anderen Ländern Europas A k a d e m i e A k t u e l l 5 d a d d a H a n m i s a Y ; l g o V l e a h c i M / G T R : s o t o F

1.2024 Kurz notiert Moore: Ökosystemfunktionen, Biodiversität und Renaturierung. Rundgespräche Forum Ökologie, Bd. 50, Verlag Dr. Friedrich Pfeil 2024. Im Murnauer Moos, Frühjahr 2023. Moore – wichtig für das Ökosystem Intakte Moore erfüllen wichtige Funk- tionen im Ökosystem. Sie dienen als Senke für Treibhausgase, puffern den Wasserhaushalt ganzer Landschaften, bieten Lebensraum für spezialisierte Arten und fungieren als Geoarchive. Die meisten mitteleuropäischen Moo- re wurden allerdings durch Entwässe- rung, Torfabbau sowie Land- und Forst- wirtschaft degradiert oder zerstört. In einem neuen Band des BAdW-Forums Ökologie werden Verbreitung, Ökolo- gie, Biodiversität, Nutzung und Rena- turierung von Mooren erläutert und Perspektiven zum Schutz von Mooren, ihrer Renaturierung und nachhaltigen Nutzung aufgezeigt. Die einzelnen Bei- träge sind unter oekologie.badw.de/ publikationen abrufbar. Das Buch ist im Buchhandel erhältlich. Das SZ- Gesundheits- forum zu Gast in der BAdW. D i e s c h n e l l e n F o r t s c h r i t t e n e u - e r R e c h e n m e t h o d e n a u f B a s i s v o n Kü n s t l i c h e r I n t e l l i g e n z v e r ä n d e r n a u c h u n s e r G e s u n d - h e i t s s y s t e m . D i e C h a n c e n f ü r P a t i e n t i n n e n u n d P a t i e n t e n , d a s K l i n i k p e r s o n a l u n d d i e F o r - s c h u n g s i n d v i e l f ä l t i g u n d w e r- f e n F r a g e n a u f : We l c h e A r b e i t e n k ö n n e n i n t e l l i g e n t e S y s t e m e ü b e r n e h m e n ? Wa s b l e i b t A u f g a - b e d e r Ä r z t i n o d e r d e s A r z t e s ? W e l c h e P e r s p e k t i v e n e r ö f f n e n s i c h f ü r d e n m e d i z i n i s c h e n F o r t s c h r i t t ? B e i e i n e m g e m e i n - s a m e n G e s u n d h e i t s f o r u m v o n S ü d d e u t s c h e r Z e i t u n g u n d B A d W d i s k u t i e r t e n A l e n a B u y x ( T U M ü n c h e n / D e u t s c h e r E t h i k r a t ) , To r s t e n H a f e r l a c h W d A B / t r e n u e N i a K ; n e h c n ü M U T / n n a m l l o K s e n n a h o J : s o t o F N I Z I D E M R E D N I I K - S T I E H D N U S E G M U R O F ( M ü n c h n e r L e u k ä m i e l a b o r ) , B j ö r n E s k o f i e r ( E r l a n g e n - N ü r n b e r g / H e l m h o l t z M u n i c h ) u n d J u l i a S c h n a b e l ( T U M ü n - c h e n / H e l m h o l t z M u n i c h ) m i t d e r M e d i z i n j o u r n a l i s t i n C h r i s t i n a B e r n d t ( S Z ) ü b e r e t h i s c h e u n d re c h t l i c h e A s p e k t e v o n K I - A n w e n d u n g e n . Veranstaltung verpasst? In der Mediathek anschauen: badw.de/mediathek A k a d e m i e A k t u e l l 7

1.2024 A k a d e m i e A k t u e l l Akademiemitglied und TUM-Professor Matthias Tschöp forscht zu den molekularen Grundlagen von Adipo- sitas und Diabetes. 9

1.2024 Im Gespräch Computertomographen Körperfettanteile messen. Sind sie gefährlich gelagert? Im viszeralen Fett oder im subkutanen Fett? Das alles ist zum Beispiel in spezialisier- ten Adipositaskliniken möglich – kostet aber Geld. Einen Biomarker, den man im Blut bestimmt, gibt es nicht. Bei Diabetes hat man das HbA1c, einen Langzeitwert für Blutzuckerwerte, der uns sehr gute Informationen liefert. So etwas gibt es bei der Adipositas bisher nicht. Sie streben eine personalisierte meta- bolische Medizin an. Was bedeutet das? Besteht dabei die Gefahr, dass wir uns nur noch auf Medikamente verlassen, anstatt einen aktiven, stressfreien und gesunden Lebensstil zu führen? Wir brauchen die Kombination. Ein gesun- der Lebensstil muss die Grundlage sein, aber wir haben in den letzten Jahrzehn- ten gesehen, dass es ohne Medikamen- te nicht geht. Die Aufklärung wurde weit vorangetrieben, und die meisten in unserer Gesellschaft wissen, wie man sich ernähren sollte. Aber es funktioniert nicht. Körpergewicht und Blutzucker sind über die Gesellschaft gesehen jedes Jahr angestiegen. Bald sind 10 % der Bevölke- rung Diabetiker. Wir haben das nicht in den Griff bekommen, in dieser hyperka- lorischen Umgebung mit all den wohl- schmeckenden Kalorien und der geneti- schen Situation, die wir als Gesellschaft haben. Es reicht nicht, sich einen besse- ren Lebensstil vorzunehmen. Deswegen brauchen wir Medikamente, die aller- dings noch besser werden könnten. Wir wissen inzwischen, dass es unterschied- liche Unterpopulationen von Patientin- nen und Patienten gibt. Zum Beispiel gibt es Menschen, die eher eine Fettleber haben, wohingegen andere ein Problem mit Heißhungerattacken haben. Manche haben eine Fettansammlung, die gar nicht zu vielen entzündlichen Reaktionen führt und vielleicht nicht so schädlich ist wie die von anderen. Wir müssen versu- chen, die Wirkstoffe in der nächsten Pha- se besser auf diese verschiedenen Unter- gruppen zuzuschneiden, um auch Neben- wirkungen möglichst gering zu halten. In Deutschland erstatten die Kranken- kassen die Kosten der Abnehmspritzen zur Behandlung von Diabetes, nicht aber von Adipositas. Was muss passieren, A k a d e m i e A k t u e l l h c i n u M z t l o h m l e H : o t o F „Ein gesunder Lebensstil muss die Grundlage sein“, so Matthias Tschöp, Geschäftsführer von Helmholtz Munich. „ Adipositas verursacht einen hohen Leidensdruck, und jedes Jahr werden Millionen Menschenleben riskiert.“ damit Adipositas als Krankheit anerkannt und kostengünstig behandelt wird? Das ist ein komplexes Thema, und ich kann alle Seiten verstehen. Wir wollen als Gesellschaft keine Lifestyle-Drogen finanzieren, die vielleicht nicht nötig oder sogar schädlich sind. Andererseits ist der überwiegende Teil von Adipositas genetisch bedingt. Adipositas verursacht einen hohen Leidensdruck, und jedes Jahr werden Millionen Menschenleben ris- kiert. Auch wirtschaftlich ist es besser, Krankheiten von vornherein zu vermei- den und nicht erst zu behandeln, wenn es zu spät ist. Wir können ausrechnen, wie viele Millionen Schlaganfälle, Herz- infarkte und Krebserkrankungen wir ver- meiden könnten, wenn wir das Körperge- wicht normalisieren. Zudem sollte die Pharmaindustrie durch mehr Wettbewerb ein besseres Gleichgewicht herstellen, sodass die Medikamente günstiger werden. Auch in der Gesellschaft muss ein Bewusstsein entstehen, wie man mit diesen Medika- menten umgeht. Bei hohem Blutdruck sagen wir nicht, ihn zu regulieren sei es nicht wert, wissend, dass das zu einem Schlaganfall führen kann. Genauso muss das bei Adipositas sein. Die Zahlen sagen klar: Wenn wir zu lange zu viel Körperfett mit uns herumtragen, steigt das Risiko für die Erkrankung deutlich und damit auch für wirtschaftliche und finanzielle Be- lastungen unseres Gesundheitssystems. Wir sind auf dem richtigen Weg, aber er muss Schritt für Schritt gegangen und gut durchdacht werden. Prof. Dr. Matthias Tschöp ist wissenschaftlicher Geschäfts- führer von Helmholtz Munich und hat eine Professur für Stoff wech - selerkrankungen an der TU München inne . Seit 2018 ist er Mitglied der BAdW und gemeinsam mit Präsident Prof. Dr. Markus Schwaiger Sprecher der Ad hoc-AG „Künstliche Intelli- genz in der Medizin“. Das Gespräch führ te Dr. Susanna Streubel. Sie koordinier t die Ad hoc-AG „Künstliche Intelligenz in der Medizin“ der BAdW, die Politik, Wissenschaft und Gesellschaft zur verantwor tungsvollen Anwen - dung von KI im Gesundheitswesen berät . Helmholtz Munich ist Koope- rationspar tner der AG. 11

1.2024 Fokus DANK DER KÜNSTLERIN CLAUDIA HOLZINGER: • an Fabian Aigner, für deine Zeit und Hilfe bei der Planung und Umsetzung der Bilder und dafür, dass du mir den Korbleger beigebracht und es so geschafft hast, mich mit der Turnhalle 3 • an Peter Aigner und Dominik Thalmeier, auszusöhnen. die für diese Serie bedingungslos in Morphsuits • an Wolfgang Lanzinger und das Gymnasium geschlüpft sind. Dorfen für das Vertrauen und die Möglichkeit, meine Ideen im Schulgebäude umsetzen zu dürfen. l l e l u l e t u k A t k e A i m e i e m d e a d k a A k r A ü r f ü r f e g x x n x i z x l x o x H : a s o i d t u o F a l C : o t o F A k a d e m i e A k t u e l l A k a d e m i e A k t u e l l 13 13

Fotos: xxxxxx für Akademie Aktuell Geodreieck oder Tablet? In der digitalen Welt bleibt beides wichtig. 1 . 2 0 2 4 F o k u s A k a d e m i e A k t u e l l 1 5

1.2024 Fokus D i e A t t r a k t i v i t ä t d e s L e h r b e r u f s v e r b e s s e r n Wer bleibt im ersten Jahr nach Studienabschluss auf dem Weg zur Lehrkraft? 66 % Referendariat 14 % Lehrkräfte 20 % andere Tätigkeit Quelle: S. Franz, S. Gäckle & C. Menge, Übergänge von Lehramtsabsolventinnen und -absolventen. Wer verbleibt im ersten Jahr nach Stu- dienabschluss auf dem Weg zur Lehrkraft? In: J. Ordemann, S. Buchholz & F. Peter (Hg.), Vielfalt von Bildungsverläufen: HERSS – Higher Education Research and Science Studies. VS Verlag für Sozialwissenschaften 2023. D a t e n f ü r d i e B i l d u n g Abschließend möchte ich auf einen Punkt hinweisen, dem nicht nur aus Sicht der Wissenschaft große Bedeu- tung zukommt: die Notwendigkeit einer verbesserten Datengrundlage für die Bildung(sforschung) und für die Ver- besserung des Bildungssystems. Dieses Thema betrifft vor allem die Verfügbar- keit und die Möglichkeit der Verknüpfung von Daten, etwa aus wissenschaftlichen Studien mit den bisher damit größten- teils unverbundenen Daten aus Ämtern und Statistiken. Wissenschaftliche Längs- schnittstudien liefern exzellente Daten zu längerfristigen Verläufen und Ent- wicklungen von Schülerinnen und Schü- lern, aber auch zu selbstbezogenen l l e u t k A e i m e d a k A r ü f r e g n i z l o H a i d u a l C : s o t o F Kognitionen oder sozio-emotionalen Merkmalen sowie zur Qualität von Unter- richt. Solche Informationen sind in amt- lichen Daten nicht oder nur ansatzweise abbildbar. Unterschiedliche Datentypen ergänzen sich also, sind komplemen- tär. Der Aufbau eines Bildungsverlaufs- registers und die Verknüpfung mit klas- sischen Befragungsdaten wären deshalb wichtige Schritte, auch um adäquates und nachhaltiges Steuerungswissen für die Politik bereitzustellen. Wir müssen daher die Qualität, Verfügbarkeit und Verknüpfung von Daten zum Bildungs- wesen stärker vorantreiben, um eine Grundlage für die richtigen politischen Entscheidungen zu schaffen: für gute Bil- dung und Chancengleichheit in der Welt von morgen. Prof. Dr. Cordula Ar telt ist Professorin für Bildungsfor- schung im Längsschnitt an der Universität Bamberg und Direktorin des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe . Dor t leitet sie das Nationale Bildungspanel (N EPS), die größte Langzeit-Bildungsstudie in Deutschland. Sie ist Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissen- schaften. Den Impulsvor trag hielt sie bei der öffentlichen Jahressitzung der BAdW. A k a d e m i e A k t u e l l 17

1.2024 Fokus Warum wir in Bildung müssen investieren D e r B l i c k d e r Ö k o n o m i n a u f d a s B i l d u n g s s y s t e m : v o m Z u s a m - m e n h a n g z w i s c h e n S c h u l b i l d u n g u n d W i r t s c h a f t s w a c h s t u m . l l e u t k A e i m e d a k A r ü f r e g n i z l o H a i d u a l C : s o t o F Vo n M o n i k a S c h n i t z e r A k a d e m i e A k t u e l l 19

1.2024 Fokus wenig greifbarem Erfolg. Wir erreichen genau die Kinder zu wenig, die auf die Chancen durch die Schulbildung am aller- meisten angewiesen sind. Und schließ- lich: Wir unterrichten das zu wenig, was für die Zukunft wichtig ist. Nach einem EU-Report haben in Deutschland nur knapp 50 % der Menschen grundlegen- de oder etwas darüber liegende digita- le Kenntnisse. Damit liegt Deutschland unter dem EU-Durchschnitt und weit entfernt von der Spitzengruppe Schweiz, Norwegen, Island und Niederlande, die alle bei knapp 80 % liegen. Wo soll man diese Kenntnisse erwerben? In der Schule natürlich. In der Sekundarstufe I (fünfte bis zehnte Klasse) ist Informatik aber nur für ein Viertel der Kinder in Deutschland ein Pflichtfach. Lediglich Mecklenburg- Vorpommern und das Saarland errei- chen die empfohlene Anzahl von sechs Wochenstunden Informatikunterricht, in Bayern sind es inzwischen immerhin zwei Wochenstunden. In neun Bundesländern ist Informatik bisher gar nicht als Pflicht- fach eingeführt, während in Großbritan- nien Grundlagen der Informatik bereits in der Grundschule unterrichtet werden. Digitale Bildung ist wichtig, um unse- re Kinder schon früh als Anwender und Entwicklerinnen von digitalen Produkten und Künstlicher Intelligenz fit zu machen. Diese Fähigkeiten werden für die Wettbe- werbsfähigkeit Deutschlands in Zukunft eine entscheidende Rolle spielen. Es gibt also noch einiges zu tun. A u s g a b e n f ü r B i l d u n g i m J a h r 2 0 2 0 ( i n P r o z e n t d e s B r u t t o i n l a n d s p r o d u k t s ) Norwegen Neuseeland UK USA Kanada Frankreich OECD-Durchschnitt Spanien Deutschland Japan Italien Russland 4,7 4,6 4,3 3,6 3,6 3,7 3,5 2,0 6,7 1,7 2,0 2,6 2,3 6,3 6,3 6,2 5,9 1,5 5,2 1,4 4,9 3,0 3,0 2,6 3,0 2,4 1,3 1,2 4,3 4,2 1,4 4,0 0,9 3,9 1,1 3,5 Primar-, Sekundar- und postsekundarer, nicht-tertiärer Sektor Tertiärbereich Quelle: OECD, Bildung auf einen Blick 2020: OECD-Indikatoren, 2020 l l e u t k A e i m e d a k A r ü f r e g n i z l o H a i d u a l C : o t o F Prof. Dr. Monika Schnitzer i s t s e i t 2 02 2 Vo r s i t ze n d e d e s S a c h - ve r s t ä n d i ge n rat s z u r B e g u t a c ht u n g d e r ge s a mt w i r t s c h a ft l i c h e n E nt- w i c k l u n g . S i e h at d e n Le h r s t u h l f ü r Ko m p a rat i ve Wi r t s c h a ft s fo r s c h u n g a n d e r L MU M ü n c h e n i n n e und ist Mitglied der Bayeris c h e n A ka d e m i e d e r Wi s s e n s c h a ft e n. Den Impulsvor trag hielt sie b e i d e r öffentlichen Jahressitzung der BAdW. A k a d e m i e A k t u e l l 21

Fotos: Claudia Holzinger für Akademie Aktuell 1 . 2 0 2 4 F o k u s

Fotos: xxxxxx für Akademie Aktuell Leistung und Fairness – nicht nur im Sportunterricht wichtig. A k a d e m i e A k t u e l l 2 5 1 . 2 0 2 4 F o k u s

1.2024 Fokus Belege dafür, dass gezielte Maßnahmen die Bildungsperspektiven benachteiligter Kinder stark verbessern können. Folgende forschungsgeleitete Ansatzpunkte kön- nen dazu beitragen, die Bildungsgerech- tigkeit in Deutschland zu erhöhen. 1. Frühkindliche Bildungsangebote für benachteiligte Kinder ausbauen. Maßnahmen im frühkindlichen Bereich ermöglichen gerade benachteiligten Kin- dern bessere Startchancen. So können die Unterschiede in der Einschulungsreife zwischen Kindern mit und ohne Migrati- onshintergrund durch den Besuch einer Kindertageseinrichtung nahezu komplett geschlossen werden. Allerdings nehmen benachteiligte Kinder, die von frühkindli- chen Angeboten am meisten profitieren würden, seltener daran teil. Daher sollte der Kitabesuch für benachteiligte Fami- lien flächendeckend kostenfrei sein. Eine „Opt-out-Regelung“, bei der Kinder auto- matisch in einer Kita angemeldet sind und Ausnahmen nur in begründeten Fällen beantragt werden können, könn- te zusätzlich zu einem höheren Kitabe- such gerade bei benachteiligten Kindern beitragen. Zudem sollten ihre Eltern per- sonalisierte Unterstützungsangebote für die Kitaplatzsuche und -bewerbung erhalten. Eine aktuelle Studie zeigt, dass dies die sozioökonomische Ungleichheit im Kitabesuch deutlich verringern kann. 2. Familien benachteiligter Kinder bei der Erziehung unterstützen. Benachteiligte Familien sind oft mit grö- ßeren Herausforderungen bei der Erzie- hung konfrontiert. Daher ist es wichtig, diese Familien dabei zu unterstützen, zu Hause ein entwicklungsförderndes Umfeld zu schaffen. Das kann durch Haus- besuche von Hebammen sowie Sozial- pädagoginnen und -pädagogen gesche- hen, die positive Auswirkungen auf Kin- der und Mütter zeigten. Daneben können auch Gruppenprogramme für Eltern die sozio-emotionale Entwicklung der Kinder und das Erziehungsverhalten der Eltern verbessern. 3. Die besten Lehrkräfte an Schulen mit vielen benachteiligten Kindern bringen. Damit auch Schulen mit einem hohen Anteil benachteiligter Kinder ein leis- tungsförderndes Umfeld bieten, müssen l l e u t k A e i m e d a k A r ü f r e g n i z l o H a i d u a l C : o t o F Für die Unter- schiede sind der Bildungshinter- grund der Eltern und das Ein- kommen beson- ders relevant. Demgegenüber fällt der Migra- tionshintergrund nicht sehr stark ins Gewicht. sie gute Lehrkräfte anziehen und halten können. Dies ist nicht trivial, da gera- de diese Schulen unter Personalmangel und hoher Fluktuation leiden. Gehaltszu- schläge für Lehrkräfte an benachteiligten Schulen stellen einen möglichen Weg dar, um diese Arbeitsplätze durch finanzielle Anreize attraktiver zu machen. Generell sollten Schulen in benachteiligten Lagen etwa durch die Nutzung von Sozialindizes gefördert werden. 4. Nachhilfe für benachteiligte Kinder früh und kostenfrei anbieten. Für die besten Bildungserfolge ist es wichtig, auf die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen individuell einzugehen. Nachhilfe kann hier ein sehr wirksames Instrument sein, etwa um die Motivati- on und die schulischen Fähigkeiten von benachteiligten Schülerinnen und Schü- lern zu steigern. 5. Aufteilung auf unterschiedliche weiter- führende Schulen verschieben. In den meisten Bundesländern werden Schulkinder nach der vierten Klasse auf weiterführende Schularten aufgeteilt. Studien deuten darauf hin, dass eine spätere Aufteilung der Schülerinnen und Schüler die Leistungen von Lernschwä- cheren steigern kann, ohne lernstärkere Kinder negativ zu beeinflussen. 6. Mentoring-Programme für benachtei- ligte Kinder fördern. Mentorinnen und Mentoren können als Vorbilder fungieren und vor allem benachteiligte Kinder in ihrem Selbst- bewusstsein stärken sowie ihre Bildungs- laufbahn verbessern. Dies zeigt ein Men- toring-Programm für Grundschulkinder. Aber auch im Jugendalter können studen- tische Mentorinnen und Mentoren die Arbeitsmarktaussichten von benachtei- ligten Schülerinnen und Schülern deut- lich steigern, wie eine aktuelle Studie zeigt. Diese Programme sind insbeson- dere dann wirksam, wenn die Kinder und Jugendlichen zu Hause nur eingeschränk- te Unterstützung erfahren. Prof. Dr. Ludger Wößmann i s t Pro fe s s o r f ü r Vo l ks - w i r t s c h a ft s l e h re a n d e r L u d w i g - M ax i m i l i a n s - U n i ve r s i t ät M ü n c h e n u n d l e i t e t d a s i fo Ze nt r u m f ü r B i l d u n g s ö ko n o m i k. E r i s t M i t g l i e d d e r A c a d e m i a Eu ro p a e a , d e r Le o p o l d i n a , vo n a c at e c h u n d d e r I nt e r n at i o n a l A c a d e my o f Ed u c at i o n. A k a d e m i e A k t u e l l 27

1.2024 D i e S c h u l e i s t e i n z e n t r a l e r O r t d e r d e m o k r a t i s c h e n B i l d u n g – w e l c h e n B e i t r a g k a n n s i e l e i s t e n , u n d w o g i b t e s i n D e u t s c h l a n d d e r z e i t D e f i z i t e ? Vo n A n n e t t e S c h e u n p f l u g u n d L o u i s e O h l i g I n der Schule sollen die grundlegenden Kom- petenzen für die Teilhabe an einer Gesell- schaft vermittelt werden. Dabei sind vor allem Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften von hoher Bedeutung. Nicht zu unterschät- zen ist aber auch, ob und in welcher Form die Schule die für eine Gesellschaft grundlegen- den Werte, Überzeugungen und Wissensbe- stände hinsichtlich des gesellschaftlichen Zusammenlebens vermittelt. In jedem Staat dieser Welt gibt es Schulen, Demo- kratie aber gibt es in vielen Staaten nicht. Es ist also nicht automatisch gegeben, dass die Institution Schule zum Leben in einer Demokratie befähigt. Was sollten Schulen tun, um auf das Leben in einer Demokratie vorzubereiten, und wie ist es diesbezüglich um die schulische Bildung in Deutschland bestellt? Demokratie ist eine voraussetzungsreiche Gesellschaftsform. Sie bedarf der Öffentlich- keit, der Transparenz, der Beteiligung und der Möglichkeit der Meinungsbildung. Demokratie beruht nicht nur auf repräsentativen Verfahren, sondern auch auf einem demokratischen Ethos, das sich in der Form gemeinsamen Handelns zeigt: diskutierend, gewaltfrei einander zuhö- rend Kompromisse zu suchen, sich gegenseitig achtend aufeinander zuzugehen und nicht zu lügen. Jürgen Habermas spricht deshalb davon, dass die Demokratie eingebettet sein muss in ein Ensemble „entgegenkommender Lebens- formen“. Die Schule ist – neben der Familie, der außerschulischen Kinder- und Jugend- bildung und weiteren Formen der Zivil- gesellschaft – der Ort, an dem es gilt, die l l e u t k A e i m e d a k A r ü f r e g n i z l o H a i d u a l C : o t o F n e n r e l e i t a r k o m e D Fokus Grundlagen für demokratische Formen des Zusammenlebens zu legen und demokra- tiebezogene Kompetenzen einzuüben. Die Demokratie ist auf mündige Bürgerinnen und Bürger angewiesen, und die Schule ist einer der zentralen Orte, an denen sich Mün- digkeit erlangen lässt. D e m o k r a t i e b e z o g e n e B i l d u n g i n d e r S c h u l e Entsprechend ist die Aufgabe von Schule doppelt zu sehen: Die Schule ist einerseits selbst eine Stätte, in der die in einer Demo- kratie grundlegenden Prinzipien der Rechts- staatlichkeit, Meinungsfreiheit und Repräsenta- tivität gelten und angewandt werden. Die Schule ist deshalb über Gesetze, die Verfassungstreue der in ihr agierenden Lehrpersonen sowie Bil- dungs- und Lehrpläne in eine Rechtsordnung eingebettet. In Deutschland ermöglicht die Schule im durch die Verfassung gesteckten Rahmen Meinungsfreiheit – z. B. durch Schulzeitschriften oder eine schulöffent- liche Debattenkultur. Sie eröffnet Mög- lichkeiten der Mitwirkung an der Gestal- tung der Schule, etwa durch auf Repräsen- tativität beruhenden Wahlen von Spreche- rinnen und Sprechern aus der Schüler- und Elternschaft. Die Schule ist zum Zweiten der Ort, an dem demokratiebezogene Kompetenzen erworben werden. Hier sollten das für das Verständnis einer Demokratie notwendige Wissen und die Es ist nicht automatisch gegeben, dass die Institution Schule zum Leben in einer Demokratie befähigt. A k a d e m i e A k t u e l l 29

1.2024 Fokus Politische Bildung in der Schule – Die ICCS-Studie W. Schulz, J. Ainley, J. Frail- lon, B. Losito, G. Agrusti, V. Damiani und T. Friedman, Education for Citizenship in Times of Global Challenge: I EA International Civic and Citizenship Education Study 2022, International Repor t , Amsterdam 2023. H. J. Abs, K. Hahn -Lauden - berg , D. Deimel und J. F. Ziemes, Schulische Sozialisation und politische Bildung von 14-Jährigen im internatio- nalen Vergleich, Waxmann 2024. die Hälfte der Schülerinnen und Schü- ler in Nordrhein-Westfalen (45 %) und Schleswig-Holstein (41 %) glaubt, dass Abgeordnete die Interessen junger Men- schen gut vertreten. Der dritte bedenkliche Befund liegt in der Delegation von Verantwortlich- keit im Hinblick auf die Bewältigung von Zukunftsproblemen. Trotz des höheren Wissens geben nur fünf von zehn Befrag- ten an, in ihrem Verhalten regelmä- ßig Umweltaspekte zu berücksichtigen. Gleichzeitig liegt das berichtete Verhal- ten zum Umweltschutz von Schülerinnen und Schülern aus Nordrhein-Westfalen unter dem ICCS-Durchschnitt. F a z i t Zusammenfassend kann man die Befun- de folgendermaßen zuspitzen: Während es in beiden Bundesländern überdurch- schnittlich gelingt, Wissen zur Demokra- tie zu vermitteln, bleiben die Möglichkei- ten der Partizipation unterdurchschnitt- lich. Zudem trauen sich Schülerinnen und Schüler in Deutschland offensicht- lich weniger häufig ein eigenes Engage- ment zu, und sie verändern ihr Verhalten weniger häufig, als dies ihre Mitschüle- rinnen und Mitschüler anderer europä- ischer Länder tun, gerade hinsichtlich eines nachhaltigen Lebensstils. Zudem ist der enge Zusammenhang zwischen der politischen Bildung und dem famili- alen sozio-ökonomischen Status beson- ders auffällig. Wa s b l e i b t z u t u n ? Damit wird deutlich: Auch im Bereich der politischen Bildung und der demo- kratiebezogenen Kompetenzen sind in der Schule weitere Anstrengungen nötig. Zum einen muss sich die Schule auf die- sem Feld insgesamt stärker einbringen, vor allem dort, wo mehr Schülerinnen und Schülern einen niedrigen sozio-öko- nomischen Status haben. Zweitens soll- te die Schule mehr Partizipationsmög- lichkeiten eröffnen und die Selbstwirk- samkeitserwartung von Schülerinnen und Schülern im politischen Feld unter- stützen. Drittens sind Zukunftsthemen stärker in den Mittelpunkt zu stellen. Zudem wäre eine verbreitetere Daten- basis wünschenswert, die für alle Bun- desländer repräsentativ ist und weitere für die politische Bildung wichtige Kom- petenzen mit in den Blick nimmt, etwa im Bereich Argumentation. Prof. Dr. Annette Scheunpflug hat den Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik an der Otto-Friedrich - Universität Bamberg inne und ist Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Louise Ohlig promovier t am Lehrstuhl für All- gemeine Pädagogik der Otto- Friedrich -Universität Bamberg zur auswär tigen Förderung demo- kratiebezogener Bildung in Staaten des globalen Südens. Sie ist Stipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes. A k a d e m i e A k t u e l l 31 l l e u t k A e i m e d a k A r ü f r e g n i z l o H a i d u a l C : s o t o F e l l A

Fotos: xxxxxx für Akademie Aktuell A k a d e m i e A k t u e l l 3 3 Oberflächlich betrachtet sind die digital natives hoch kompetent im Umgang mit Computern, Tablets und Smartphones. 1 . 2 0 2 4 F o k u s

1.2024 Fokus Weiter führende Angebote für Schulen: K. Köhler, U. Schmid, L . Weiß, K. Weitz, „Pixel & Co. – Informatik in der Grundschule“, Westermann Verlag 2020. U. Furbach, E. Kitzelmann, T. Michaeli, U. Schmid (Hg .), Künstliche Intelligenz für Lehrkräfte . Eine fachliche Ein - führung mit didaktischen Hin - weisen. Springer Verlag 2024. Lernspiele zu Informatik und KI bei HABA Pro Digitial Star ter. Online-Kurs Digital Literacy für die Grundschule , unter ki- campus.org abrufbar. 2 . D a t a L i t e r a c y – p l a n v o l l m i t D a t e n a r b e i t e n Die zunehmende digitale Transformation vieler Lebens- und Arbeitsbereiche führt zu einer immer größeren Verfügbarkeit von Daten, die digital verarbeitet wer- den können. Neben Standardalgorith- men, mit denen Daten durchsucht, aus- gewählt und verknüpft werden, nutzen vor allem KI-Algorithmen, insbesondere Ansätze des Maschinellen Lernens, Daten. Wie bereits erläutert, können Daten Zahlen und Texte, aber auch komplexe- re Informationen wie Bilder sein. Daten- kompetenz bedeutet neben Fragen des Datenschutzes und der Datensicherheit insbesondere ein Verständnis der Quali- tät und Zuverlässigkeit von Daten sowie von Berechnungsergebnissen oder Vor- hersagen aus Daten. Während die Ge- winnung von Daten für physikalische Phänomene wie Länge oder Gewicht meist in angemessener Genauigkeit und mit nur geringen Messfehlern erfolgen kann, ist dies bei komplexeren Phänome- nen wie etwa, ob eine Schülerin oder ein Schüler gerade aufmerksam ist, deutlich schwieriger. Nutzt man KI-Methoden im Kontext von Bildung (learning analytics), A k a d e m i e A k t u e l l l l e u t k A e i m e d a k A r ü f r e g n i z l o H a i d u a l C : o t o F Grundkennt- nisse der Informatik im digitalen Zeit- alter gehören selbstverständ- lich in die Lehrpläne aller Schulen. so birgt eine naive Nutzung von Daten die Gefahr, dass unzutreffende Vorher- sagen, etwa über die zu erwartenden Leistungen von Lernenden, getroffen werden. Viele Menschen sind anfäl- lig dafür, Systemausgaben unhinter- fragt zu vertrauen. Insbesondere wer- den numerische Angaben häufig als objektiv oder wahr eingeschätzt, auch wenn dies nicht der Fall ist. Einfluss- größen auf die Zuverlässigkeit von Daten sowie ein Verständnis von der Beziehung erhobener Daten zu den angenomme- nen darunterliegenden Konzepten soll- ten daher kritisch diskutiert und an Bei- spielen veranschaulicht werden. Entspre- chend gehören Grundkenntnisse von Methoden der Datenerfassung sowie 35

1.2024 Auf den Punkt Glanz ohne Glamour – die Stärke der Demokratie E i n K o m m e n t a r v o n H e i n e r B i e l e f e l d t I l l u s t r a t i o n M a r t i n F e n g e l D emokratien stehen unter Druck wie seit Langem nicht mehr. Bedrohungen kommen nicht nur von außen: von autokratischen Regimen, darunter Russ- land und China. Auch in manchen Mitgliedstaaten der EU nehmen autori- täre Verhärtungen zu. Die sich überlappenden Krisen der letzten Jahre nähren das Verlangen nach einfachen Lösungen. Könnte es sein, dass die Demokratie als solche überfordert ist? In der sich verschärfenden Systemrivalität stehen wir in der Gefahr, die Stärke der Demokratien zu gering zu schätzen – und im Gegenzug die Stärke autokratischer Regime zu überschätzen. In einer freiheitlichen Demokratie werden Kontroversen und Machtkämpfe auf offener Bühne ausgetragen. Die Opposition zerrt Ungereimthei- ten im Regierungshandeln gnadenlos ans Licht der Öffentlichkeit, und die Medien sorgen dafür, dass Probleme nicht dauerhaft unter den Teppich gekehrt werden. Ab und zu fällt dann auch die Gerichtsbarkeit den Regierenden in den Arm. Dies alles ist nicht immer schön anzusehen. Demokratien zeigen sich selten glamourös. Selbst im Wahlkampf weisen die Image-Kampagnen Brüche und Widersprüche auf. In autokratischen Regimen sieht das anders aus. Aus der Tatsache, dass Konflikte meist nicht auf offener Bühne stattfinden, sollte man allerdings nicht schließen, dass es sie nicht gebe. In China verschwindet plötzlich ein Minister – und keiner weiß warum. In Russland schafft es ein Söldner- führer, seine Truppen gen Moskau zu führen, was der Kreml offenbar nicht hatte kommen sehen. Wo für Opposition kein sichtbarer öffentlicher Ort vorgesehen ist, sind die Herrschenden womöglich umso mehr geneigt, sie unsicht- bar überall zu wittern. Daraus resultieren die unersätt- lichen Kontrollobsessionen autokratischer Regime. Doch am Ende des Tages können die repressiven Kontrollmaßnahmen den Zweifel nicht beseitigen, ob hinter der Kulisse staatlicher Propaganda und erzwungener Loyalität nicht womöglich doch heimliche Illoyalität lauern könnte. Es gibt gute Gründe dafür, sich von Glitzerfassaden autoritärer Regime nicht ins Bockshorn jagen zu lassen. Die Stärke der freiheitlichen Demo- kratie besteht gerade auch darin, dass sie mit Problemen, Fehlern, Schwächen, Unsicherheiten offen umgeht. Dies birgt Chancen für gesellschaftliches Lernen. Dass man vor allem aus Fehlern lernen kann, gilt auch für die Politik. Vorausgesetzt, dass die Fehler offen- gelegt werden – durch Opposition, Medien, unabhängige Gerich- te. Um es paradox zu formulieren: Der Glanz der Demokratie zeigt sich darin, dass sie auf vordergründigen Glamour verzichten kann. Prof. Dr. Heiner Bielefeldt hat den Lehrstuhl für Menschenrechte und Menschen- rechtspolitik an der Universität Erlangen-Nürnberg inne und ist BAdW-Mitglied. W d A B / k c o L n a i t s a b e S : o t o F A k a d e m i e A k t u e l l 37

1.2024 Lesenswert In unserer Buch -Kolumne fragen wir Angehörige der Akademie nach ihrer aktuellen belletristischen Lektüre. „Ich fühle mich auf wunderbare Weise woanders“ Der Musikwissenschaftler Ulrich Konrad über seinen Einzug in die Welt der Bücher Wie begeistern Sie Kinder fürs Lesen? Am Anfang durch Erzählen von erfundenen Geschichten aus dem „Kopfbuch“. Kinder müs sen zum Staunen verleitet werden! Dann durch lebhaftes Vorlesen aus Büchern, die ich in Händen halte: Die Lesewelt entspringt einem individuellen, greifbaren Ort (und nicht einem immer gleichen Bildschirm). Welches Buch empfehlen Sie Ihren Studierenden? Thomas Manns kapitalen Musik- und Zeitroman „Doktor Faus- tus“. Und als zeitgenössisches Komplementärstück „Der Klang der Zeit“ von Richard Powers. Den be sonders Lesehungrigen würde ich eine Reise durch Bücher mit Musikbezug empfehlen, etwa Wassermanns „Das Gänsemännchen“, Rollands „Johann Christof“ oder, aus unseren Tagen, Schneiders „Schlafes Bru- der“, Baronskys „Herr Mozart wacht auf“ oder Selges „Beethovn“. Kaufen oder leihen? Wenn möglich: Kaufen! Hesse hat Recht mit seiner Meinung, ein Haus ohne Bücher sei arm, auch wenn schöne Teppiche seinen Boden und kostbare Bilder die Wände bedeckten. Allerdings habe ich mit meiner Bücher- und Notenbibliothek längst ein Nachlass- problem geschaffen (zum Glück nicht für mich …). Fragen: rz Was lesen Sie gerade? „Der Leopard“ von Giuseppe Tomasi di Lampedusa. Die Hand- lung des Romans spielt auf Si zilien. Ich greife nach Reisen ger- ne zu Büchern, mit denen ich unterwegs gewonnene Ein drücke ergänzen, vertiefen oder kon trastieren kann, so auch hier. Was gefällt Ihnen an diesem Buch? „Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, muss alles sich ändern.“ Eine kecke Be haup tung, dem reifen Fürsten Don Fab- rizio von seinem jugendlichen Neffen Tancredi non chalant ent- gegengehalten, als es um die sich anbahnenden Umwälzungen im Italien nach 1850 geht. Was lässt sich in „Transformationspro- zessen“ bewahren, was muss aufgegeben werden, wie verhalten sich Gewinn und Verlust im Leben zueinander? To masi di Lam- pedusa geht diesen fundamentalen Fragen in einer Mischung aus Melancholie, Ironie und Realitätssinn nach, erzählt in einer vielgestaltigen Sprache und stellt lebendige Fi guren vor die Leseraugen. Im Kopf entsteht wie von selbst ein opulenter Film (den Luchino Visconti mei sterhaft gedreht und Nino Rota mit seiner Musik auch für die Ohren hinreißend versinn licht hat). Warum lesen Sie? Der Mensch lebt nicht nur von Brot und Wirklichkeit allein. Wenn Bücher mich in ihre Welt hineinlocken, ich dort eine Weile ein- ziehen und mit den han delnden Personen in Freud und Leid leben darf, dann fühle ich mich auf wunderbare Weise woan- ders. Außerdem bin ich begierig auf gutes Deutsch – Bücher müssen für mich Sprach kunstwerke sein. Welchen Klassiker haben Sie viel zu spät im Leben gelesen? „Ulysses“ von James Joyce. Gekauft habe ich das Buch als Stu- dent in der Übersetzung von Hans Woll schläger, bin damals an der Lektüre gescheitert und habe diesen Gipfel der literari- schen Moderne erst vor wenigen Jahren bezwungen. Mit einiger Anstrengung, aber am Ende mit Gewinn. Im fortgeschrittenen Lesealter ist mir zugute gekom men, dem Assoziations gestöber, das der Autor im Bewusstseinsstrom seines Helden Leopold Bloom verfolgt, nicht mehr wehrlos ausgeliefert gewesen zu sein (und, ich gebe es gerne zu, die kommentierte Ausgabe, die ich mir zusätzlich angeschafft habe, war sehr hilfreich). Welches Buch erklärt für Sie die ganze Welt? Die Bibel. A k a d e m i e A k t u e l l F o t o R e g i n a R e c h t ― I l l u s t r a t i o n K a t i S z i l á g y i 39

1.2024 Kurz vorgestellt Haben Sie ein (historisches) Vorbild in der Wissenschaft? An einem modernen Universalgelehr- ten wie Max Weber faszinieren mich die interdisziplinäre Bandbreite der Inter- essen und die Kombination von empiri- schem Detailreichtum, theoretischer Abs- traktion und terminologischer Schärfe. Was macht Ihr Leben reicher? Begegnungen und Gespräche, die mir neue Perspektiven eröffnen. Dr. Fabian Hutmacher D r. F a b i a n H u t m a c h e r i s t w i s s e n s c h a f t l i c h e r M i t a r - b e i t e r a m L e h r s t u h l f ü r K o m m u n i k a t i o n s p s y c h o l o g i e u n d N e u e M e d i e n a n d e r U n i v e r s i t ä t W ü r z b u r g . Z u v o r s t u d i e r t e e r P s y c h o l o g i e , P h i l o s o p h i e u n d G e r m a n i s t i k a n d e r U n i v e r s i t ä t R e g e n s - b u r g . Ve r s c h i e d e n e A u s l a n d s - a u f e n t h a l t e f ü h r t e n i h n i n d i e N i e d e r l a n d e , n a c h N o r w e - g e n u n d i n d i e S l o w a k e i . E r i s t M i t g l i e d i m J u n g e n K o l l e g d e r B A d W. Wozu forschen Sie? Ich bin Psychologe und beschäftige mich mit individuellen und kollektiven Pro- zessen des Erinnerns und der Identitäts- konstruktion sowie Mechanismen kog- nitiver Informationsverarbeitung. Mich interessiert u. a., wie sich autobiografi- sches Erinnern im digitalen Zeitalter ver- ändert und weshalb Menschen sich so schwertun, Informationen rational und objektiv zu verarbeiten. Was war für Sie der wichtigste Moment in Ihrer Forscherlaufbahn? Wichtiger als ein spezifischer Moment ist, dass ich das Glück hatte, in Kontex- ten arbeiten zu dürfen, in denen mir ein t a v i r p : s o t o F außergewöhnliches Maß an akademi- scher Narrenfreiheit zugestanden wurde. Das bot mir die Gelegenheit, meine eige- ne Stimme als Wissenschaftler zu finden und zu entwickeln. Was treibt Sie an? Das Schöne an der Psychologie ist, dass sie sich mit Phänomenen beschäftigt, die wir mit unserem eigenen Erleben und Verhalten in Zusammenhang brin- gen können. Daraus ergibt sich jedoch zugleich die Schwierigkeit, dass man mitunter dazu neigt, vorschnell den eigenen Alltagsintuitionen zu vertrauen. Ich möchte gerne dazu beitragen, mit wissenschaftlichen Methoden Ordnung in das Chaos der Küchenpsychologien zu bringen. Mit welcher (auch historischen) Person würden Sie gerne diskutieren? Mit Sokrates. Über seine Kunst, die rich- tigen – und auch unbequeme – Fragen zu stellen, würde ich gerne mehr lernen. An anderen bewundere ich … … wenn sie trotz ihres Erfolgs die Boden- haftung nicht verlieren. Wenn sie sich also daran erinnern, dass sie ihr eige- nes Vorankommen nicht nur sich selbst verdanken und sie ihren Einfluss verant- wortungsbewusst statt machtpolitisch einsetzen. Was macht Ihr Leben reicher? Die Menschen, die mir nahestehen und mich liebevoll begleiten. Prof. Dr. Nathalie Lackus P r o f. D r. N a t h a l i e L a c k u s i s t J u n i o r p r o f e s s o r i n f ü r P f l a n - z e n m e t a b o l i s m u s u n d M e t a b o - l o m i c s a n d e r U n i v e r s i t ä t W ü r z b u r g u n d f o r s c h t a m L e h r- s t u h l f ü r P h a r m a z e u t i s c h e B i o l o g i e . S i e s t u d i e r t e a n d e r U n i v e r s i t ä t H o h e n h e i m i n S t u t t g a r t u n d w u r d e a m M a x - P l a n c k- I n s t i t u t f ü r c h e - m i s c h e Ö k o l o g i e u n d d e r U n i v e r s i t ä t J e n a p r o m o v i e r t . S i e i s t M i t g l i e d i m J u n g e n K o l l e g d e r B A d W. Wozu forschen Sie? Meine Forschung beschäftigt sich mit niedermolekularen chemischen Verbin- dungen, sogenannten spezialisierten Metaboliten, die von Pflanzen produziert werden. Der Schwerpunkt meiner Arbeit liegt auf dem Verständnis und der Aufklä- rung der Biosynthesewege und der Evolu- tion dieser Stoffwechselwege in Pflanzen. Außerdem möchte ich verstehen, welche Funktion diese Stoffwechselprodukte für die Pflanze in ihrer Umwelt haben und wie sie vom Menschen genutzt werden können. Wie haben Sie Ihr Fach für sich entdeckt? Die Biologie hat mich schon in der Schu- le durch ihre Vielfalt beeindruckt und fasziniert. Während meines Biologie- studiums habe ich mich besonders für Pflanzen interessiert, ihre Anpassungs- fähigkeit an wechselnde Umweltbe- dingungen und die beeindruckende Vielfalt an spezialisierten Stoffwechsel- produkten, die sie produzieren können. Diese Faszination hat mich auch wäh- rend meiner Arbeit als Doktorandin, Post- doktorandin und jetzt als Juniorprofesso- rin nicht losgelassen. Was treibt Sie an? Die Neugier, die Geheimnisse der Pflan- zen zu verstehen und zu begreifen. Wich- tig ist mir auch, Wissen und Forschungs- ergebnisse an Studierende, Schülerinnen und Schüler und die breite Öffentlichkeit weiterzugeben und so die Begeisterung für die Biologie zu fördern. Mit welcher (auch historischen) Person würden Sie gerne diskutieren? Ich würde gerne mit der Entwicklungs- biologin und Genetikerin Christiane Nüsslein-Volhard über ihre Forschung und ihre Erfahrungen in der Wissenschaft sprechen. An anderen bewundere ich … … Innovationsgeist, Kreativität und Fantasie. Welche Begabung hätten Sie gerne? Ich wäre gerne musikalisch. Fragen: el A k a d e m i e A k t u e l l 4141

1.2024 Geschichte Forschung D i e I n s c h r i f t e n d e r A l t e n K a p e l l e i n R e g e n s b u r g z e u g e n v o n H e i l i g e n , K a n o n i k e r n u n d P a t r i z i e r n . D e r e n w i s s e n s c h a f t l i c h e E d i t i o n i s t n u n e r s c h i e n e n . l t s r e F l l r e e u t t e k P A / e g i m r u e b d s a n k e A g e r ü R f t d x x a x t S x x : o x t : o s F o t o F A k a d e m i e A k t u e l l 43

1.2024 Geschichte Forschung IVo n R a m o n a B a l t o l u u n d B e r n d P ä f f g e n r r o n K a i l u J / t k e j o r p n e t f i r h c s n I : o t o F der Mitte des 9. Jahrhunderts zurück. Diese ließ Ludwig der Deutsche zur gleichen Zeit errichten wie seine Frankfurter Pfalz, das administrative Zentrum seines Reiches. Um den Regensbur- ger Kornmarkt erstreckte sich damals eine repräsentative Pfalz- bebauung. Die alte Kapelle reklamierte aber schon im Mittel- alter ein höheres Alter für sich, sie galt sogar als Mutter aller Kirchen in Bayern. Die heutige Außenwirkung des Kirchenbaus mit dem hohen Chor der Spätgotik lässt mittelalterliche Bauphasen erkennen. Eindrucksvoll ist die Gnadenkapelle an der Kirchen- südseite, in der seit 1694 das verehrte Marienbild der Dexiokra- tusa ausgestellt wird. Aus der Jakobskapelle, dem Vorgänger- bau der Gnadenkapelle, stammt im Bogenfeld des Portals zum Langhaus ein Gemäldeepitaph des Renaissancekünstlers Hans Mielich, das Christus im Grab zeigt. In Regensburg gibt es schätzungsweise 6.000 Inschriften. Der reiche epigraphische Bestand der Stadt findet sich in Klöstern, Kirchen und Stiften sowie in Profanbauten. Das BAdW-Projekt zur Herausgabe der Deutschen Inschriften des Mittelalters und der frühen Neuzeit hat nun nach der Bearbeitung von Minori- tenkirche und Dom den vierten Teilband über das Kollegiatstift Unserer Lieben Frau zur Alten Kapelle veröffentlicht. Publiziert ist damit ein gutes Fünftel des Gesamtbestands der Inschriften im Regensburger Stadtbereich. E i n z i g a r t i g e r Tr a d i t i o n s o r t Die Alte Kapelle mit ihrem seit über 1.000 Jahren bestehenden Kollegiatstift „Unserer Lieben Frau“ ist ein einzigartiger Tradi- tionsort. Der spätbarocke Bau geht auf eine Pfalzkapelle aus A k a d e m i e A k t u e l l 45

1.2024 Geschichte Forschung D i e ä l t e s t e d e r I n s c h r i f t e n i s t n i c h t i n R e g e n s b u r g , s o n d e r n i n d e r S c h a t z k a m m e r d e r M ü n c h n e r R e s i d e n z z u f i n d e n . Der Altarstein aus grünem Porphyr ist von einem mit vergol- detem Silberblech ummantelten Eichenrahmen gefasst. In den Rahmen sind die Bildnisse und Namen aller Heiligen eingraviert, deren Reliquien der Altar angeblich birgt – darunter ein Stück Holz des Kreuzes Jesu (DE LIGNO D(OMI)NI) und Milch der Gottes- mutter Maria (DE LACTE S(ANCTE) MARIE). E i n e a u s K o r d e l n g e l e g t e I n s c h r i f t Ein ebenso altes wie eigenwilliges Objekt birgt der Dachreiter von St. Kassian, der zur Alten Kapelle gehörigen Pfarrkirche. Hier hängt eine Glocke aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, deren Inschrift den Beginn des Ave Maria verkündet: AVE MARIA GRA(TIA) PLENA D(OMI)N(V)S TECV(M) – Gegrüßt seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr sei mit dir. Die fünf Zentimeter hohen Buchstaben wurden ursprünglich aus wachsgetränkten Schnüren auf ein Glockenmodell aus Lehm gelegt. Von dieser sogenannten „falschen Glocke“ wurde die Gussform abgenommen. So ist die Struktur der Kordeln auf der Glocke noch heute gut erkennbar. Ve r l o r e n e G r a b i n s c h r i f t e n e r g ä n z t Zu den ältesten Objekten der Alten Kapelle zählen drei weitere Glocken aus der Mitte des 13. Jahrhunderts sowie zwei Bau- inschriften aus der Zeit um 1300. Darüber hinaus gibt es vier Grabdenkmäler aus dem 14. Jahrhundert. Angesichts des Alters des Stifts erscheint diese Anzahl gering. Wie viele Verluste es gegeben haben muss, zeigt eine Handschrift aus dem späten 16. Jahrhundert, die sich heute im Stadtarchiv Regensburg befin- det: In der Grabinschriftensammlung des Regensburger Rats- herrn Elias Eppinger reiht sich eine Inschrift an die andere. Bei einem Abgleich mit den im Original erhaltenen Inschriften der Alten Kapelle ergab sich eine Vielzahl bislang unbekannter Texte. Für das 14. Jahrhundert konnten 40 zusätzliche Sterbeinschriften in den Katalog aufgenommen werden. Demnach sind von dem inzwischen bekannten Bestand nur 10 % im Original vorhanden. Dabei waren es bedeutende Regensburger Patrizierfamilien wie die Familien Hiltprant, Gumpert, Sitauer, Maller und Zant, die sich Denkmäler in der Alten Kapelle setzen ließen. Heinrich Zant ließ für seine Familie 1299 eine eigene, dem Heiligen Markus geweihte Kapelle am Kreuzgang des Stifts errichten. Noch heute zeugt davon eine relativ unscheinbare und für den Laien kaum zu entziffernde Bauinschrift außen an einem Pfeiler der Kapelle. Die Grabdenkmäler der dort bestatteten Familienmitglieder sind jedoch heute verloren und nur über die alte Abschrift bekannt. Z u L e b z e i t e n f ü r d i e M e m o r i a g e s o r g t Vergänglich sind aber nicht nur alte Inschriften, sondern auch das Leben selbst. Dessen war sich auch der eine oder andere Stiftsherr bewusst und sorgte bereits zu Lebzeiten für sein späteres Andenken. So ließ sich der Kanoniker Magister Urban Prunner ein Gemäldeepitaph anfertigen, auf dem er demütig kniend als Betender vor dem Leichnam Jesu dargestellt ist. Prunner wendet sich mit der Bitte eripe et fave (errette mich und sei mir wohlgesonnen) an Christus. Die beigefügte Inschrift erzählt, wer er im Leben war und wann er verstorben ist, nämlich 1544. Doch nicht nur Prunner sorgte mit dem Epitaph für seine Memoria. Auch der bereits erwähnte Maler Hans Mielich verewigte sich darauf mit seinen Initialen. In diesem Fall ist das dauerhafte Andenken gelungen: Die Tafel ist noch heute in der Gnaden- kapelle der Alten Kapelle zu bewundern. B u c h v o r s t e l l u n g i n R e g e n s b u r g Am 12. Oktober 2023 wurde der neue Band in der Alten Kapelle öffentlich vorgestellt. Er umfasst die Inschriften in der Kirche sowie kaum zugängliche Objekte in den angrenzenden Kapel- len, dem Kreuzgang, den unmittelbaren Stiftsgebäuden sowie der zugehörigen Pfarrkirche St. Kassian. Die dortigen Inschrif- ten wurden von Walburga Knorr und Werner Mayer mit weit- gehend ehrenamtlichem Einsatz zusammengetragen, anschlie- ßend wurden sie an der Münchner Arbeitsstelle für den Druck eingerichtet. Zwei Einleitungsbeiträge stellen ergänzend die Geschichte und die Baugeschichte des Stifts dar. Die Publikation „Die Inschriften der Stadt Regensburg IV. Das Kollegiatstift Unserer Lieben Frau zur Alten Kapelle“ ist im Dr. Ludwig Reichert Verlag in Wiesbaden als 110. Band der Reihe „Die Deutschen Inschriften“ erschienen. Das Langzeitprojekt ist ein Gemein- schaftsunternehmen der deutschen Landesakademien und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Dr. Ramona Baltolu ist seit 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Deutsche Inschriften des Mittelalters und der frühen Neuzeit“ der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, das im Akademienprogramm geförder t wird. Prof. Dr. Bernd Päffgen ist seit 20 05 Extra-Ordinarius für Vor- und Frühge- schichte an der LMU München. Ein Arbeitsschwerpunkt l i e g t i n d e r A rc h ä o l o g i e d e s M i t t e l a l t e r s u n d d e r Neuzeit in Bayern. Er ist Mitglied der Bayerischen Aka- demie der Wissenschaften und leitet dor t seit 2020 das Inschriften -Projekt . A k a d e m i e A k t u e l l 47

1.2024 Digitalisierung Forschung Vo n R o l a n d A . S t ü r z Die digitale Transformation zeigt sich in allen Lebens- bereichen. Sie verändert, wie Menschen kommunizie- ren, arbeiten, einkaufen oder mit Behörden interagie- ren. Damit einher gehen große Herausforderungen für Wirt- schaft, Gesellschaft und Staat, aber auch für jede Einzelne und jeden Einzelnen, um sich an die sich wandelnden Gegebenhei- ten anzupassen. Deutschland läuft dabei Gefahr, international abgehängt zu werden. Nicht erst seit der Corona-Pandemie gibt es Kritik am Fortschritt der Digitalisierung in der staatlichen Verwaltung oder im Bildungssektor. Auch Unternehmen haben Schwierigkeiten, ihre Prozesse und Geschäftsmodelle für das digitale Zeitalter und gegen die Konkurrenz aus dem Ausland fit zu machen. Für die Menschen bedeutet der digitale Wan- del, dass sie digitale Kompetenzen entwickeln müssen. Diese ermöglichen es ihnen, mit neuen Gegebenheiten im Berufs- und Privatleben zurechtzukommen, ihre Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten und nicht zuletzt informiert, reflektiert und selbstbe- stimmt mit neuen Technologien umgehen zu können. S i e b e n e u r o p ä i s c h e L ä n d e r i m Ve r g l e i c h Um den Stand der digitalen Transformation in Deutschland und die damit verbundenen Herausforderungen sowie Einstel- lungen, Wünsche, Ängste und Sorgen der Menschen näher zu l g n a t S n i r t a K : n e n o i t a r t s u l l I untersuchen, wurden im Sommer 2021 insgesamt 9.044 Perso- nen – teils online, teils telefonisch – befragt. Diese ursprüng- lichen Befragungsdaten des bidt-SZ-Digitalbarometers (2022) aus Deutschland zu den Themen digitale Kompetenzen, Nutzungsver- halten und E-Government, digitale Transformation der Arbeits- welt sowie Künstliche Intelligenz wurden im Rahmen des bidt- Digitalbarometers.international (2023) um Befragungsdaten aus sechs europäischen Vergleichsländern ergänzt. Dazu wur- den zwischen Ende November 2022 und Anfang Januar 2023 jeweils zwischen 1.157 und 1.734 Personen in Österreich, Spa- nien, Finnland, Frankreich, Großbritannien und Itali- en – teils online, teils tele- fonisch – befragt. Die Ana- lyse der Daten ermöglicht es, den Stand der digitalen Transformation der ver- schiedenen Länder zu ver- gleichen und Stärken und Schwächen beim digita- len Wandel in Deutschland aufzuzeigen. Die Ergebnis- se zeigen eine im Länder- vergleich stark ausgeprägte D e u t s c h - l a n d l ä u f t G e f a h r , i n t e r n a t i o - n a l a b - g e h ä n g t z u w e r d e n . A k a d e m i e A k t u e l l 49

1.2024 Digitalisierung Forschung D i g i t a l e K o m p e t e n z e n n a c h A l t e r Indexwert (Punkte von 100 möglichen Punkten) 14-29 Jahre 65+ Jahre Unterschied Deutschland Österreich Spanien Finnland Frankreich 72 68 69 72 68 Großbritannien 66 Italien 71 35 47 39 51 45 42 40 -37 -21 -30 -21 -23 -24 -31 Große Kompetenzkluft: Im Vergleich schneiden junge Menschen in Deutschland gut, ältere schlecht ab. talen Kompetenzen auf, während die über 64-Jährigen in Deutschland mit 35 Punkten die geringsten digitalen Kompe- tenzen unter den betrachteten Ländern besitzen. Auch nach formalem Bildungsniveau, Haushaltsnetto- einkommen und Geschlecht ist die digitale Kompetenzkluft in Deutschland stark ausgeprägt, während sie insbesondere in Finnland deutlich kleiner ausfällt. Problematisch erscheint in diesem Zusammenhang, dass unter den 65-Jährigen und Älte- ren sowie unter den formal niedrig Gebildeten in Deutschland auch im europäischen Vergleich relativ wenige angeben, in jün- gerer Zeit ihre Fähigkeiten im Umgang mit dem Internet oder digitalen Geräten verbessert zu haben. Die Ergebnisse für die Gesamtbevölkerung spiegeln sich auch bei Erwerbstätigen wider. Diese weisen in Deutschland mit durchschnittlich 62 Punkten ähnliche Kompetenzwerte auf wie in Spanien, Frankreich und Großbritannien, während Er- werbstätige in Österreich mit 66 Punkten und in Finnland mit 67 Punkten ein höheres Kompetenzniveau besitzen. Erschwe- rend hinzu kommt, dass das Angebot an Fort- und Weiterbil- dungen beim eigenen Arbeitgeber zum Thema Digitalisierung in Deutschland im Ländervergleich als relativ schlecht ein- geschätzt wird. Ve r s t ä r k t e B i l d u n g s a k t i v i t ä t e n e m p f o h l e n Aufgrund der relativ großen Kompetenzkluft und der teils gerin- gen Weiterbildungsaktivitäten in Deutschland besteht Gefahr, dass immer größere Teile der Bevölkerung digital abgehängt werden. Mit dem digitalen Wandel der Arbeitswelt sind immer mehr Menschen gefährdet, ihre Beschäftigungsfähigkeit zu ver- lieren. Älteren Menschen jenseits des Erwerbslebens droht, ohne ausreichende digitale Kompetenzen nicht mehr am gesellschaft- lichen Leben partizipieren zu können. Es muss daher ein Haupt- augenmerk auf lebenslanges Lernen gelegt werden – von der Schulbildung bis zu Angeboten für Seniorinnen und Senioren. Mit Blick auf das föderale Schulbildungssystem in Deutschland D e r T h i n k Ta n k d e s b i d t vermittelt ein unabhängiges, faktenbasiertes Bild über den digitalen Wandel. Er gibt Anregungen sowie Empfehlungen zur erfolgreichen Gestaltung der digitalen Transformation. Das macht ihn zum Ansprechpartner für Entscheidungsträgerinnen und -träger in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. D a s D i g i t a l b a r o m e t e r Roland A. Stürz et al. entwickelten mit dem bidt-SZ-Digitalbaro- meter (2022) bzw. dem bidt-Digitalbarometer.international (2023) Instrumente, mit denen Daten zum Stand der digitalen Transformation in Deutschland sowie sechs europäischen Ländern erhoben und verglichen werden konnten. Mehr dazu unter bidt.digital/publikation. D a s D i g C o m p S AT ist ein Werkzeug zur Beurteilung der individuellen digitalen Kom- petenz mithilfe eines selbst durchzuführenden Tests. Es wurde 2020 von Ian Clifford et al. durch das Joint Research Centre publi- ziert (Ian Clifford et al.: DigCompSAT. Luxemburg, 2020). bedarf es einer guten Abstimmung unter den Bundesländern. Ein flächendeckendes Unterrichtsfach Informatik könnte schon früh zur Förderung digitaler Kompetenzen beitragen. Bei der Erwachsenenbildung bedarf es verstärkter Weiterbildungs- aktivitäten. Zusätzliche Potentiale für die Volkswirtschaft kön- nen gehoben und eine Vergrößerung der digitalen Kluft auf- gehalten werden, wenn vor allem bei niedrig qualifizierten Geringverdienenden die Weiterbildungsbeteiligung erhöht wird. Sinnvoll wäre die Schaffung einer besseren Beratungs- und För- derlandschaft sowie niederschwelliger Lernangebote. Letztere können bei älteren Menschen die Bereitschaft und die Möglich- keiten zum Einsatz digitaler Innovationen im Gesundheits- und Pflegebereich erhöhen. Dadurch kann einer weiteren Kosten- explosion im Gesundheitswesen entgegengewirkt und gleich- zeitig zu einem erfüllteren Leben im Alter beigetragen werden. Damit Deutschland international bei der Digitalisierung nicht den Anschluss verliert, gilt es möglichst zeitnah zu handeln und die aufgezeigten Problemfelder anzugehen. Dr. Roland A . Stürz ist Abteilungsleiter des Think Tanks am bidt . Die Forschungsinteressen des promovier ten Betriebswir ts liegen in den Bereichen digitale Transformation, Industrieevolution und Innovationspolitik. Vor seiner Tätigkeit am bidt war er am Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb sowie an der LMU München tätig . A k a d e m i e A k t u e l l 51

1.2024 Sicherheitspolitik Forschung S a s k i a H i e b e r, C a r l o M a s a l a , H e r f r i e d M ü n k l e r u n d C h r i s t i a n Wa l t e r i m G e s p r ä c h ü b e r v e r ä n d e r t e D y n a m i k e n i n d e r W e l t o r d n u n g , d i e s i c h w a n d e l n d e R o l l e d e r Ve r e i n t e n N a t i o n e n u n d d a s M o d e l l d e r „ P e n t a r c h i e “. F r a g e n B i r g i t K a p p e l B I R G I T K A P P E L : Der russische Angriffskrieg verstößt gegen die Grundprinzipien des geltenden Völkerrechts. Was ist ein Völker- recht wert, wenn es nicht durchgesetzt wird? C H R I S T I A N W A L T E R : Sie sprechen das Grunddilemma des Völ- kerrechts an. Man hat immer wieder versucht, Institutionen zu schaffen, die bei der Durchsetzung des Völkerrechts helfen. Wir sind aber trotzdem darauf angewiesen, dass die Staaten das Recht im eigenen Interesse durchsetzen, wenn es gebro- chen wird. Darauf müssen wir in Zukunft wieder verstärkt den Blick richten. Ich glaube, das ist nicht so sehr eine Frage der Übereinstimmung in den materiellen Normen. Die Zustim- mung zum Gewaltverbot ist enorm. Es gibt ein Problem bei der Durchsetzung. C A R L O M A S A L A : Es ist ein interessantes Phänomen, wie sich Staa- ten für ihr eigenes Handeln Legitimität erstellen. Konzentrieren wir uns auf Krieg: Alle Staaten sind bemüht, für ihr unter Exper- ten als völkerrechtswidrig angesehenes Handeln eine angeb- lich völkerrechtskonforme Erklärung abzugeben. Auch wenn sie erstunken und erlogen ist! Die USA haben es 2003 mit der Uminterpretation einer existierenden Sicherheitsratsresolution versucht. Die Russen probieren es mit der Bedrohung der rus- sischstämmigen Minderheit im Donbass. Man glaubt, dadurch Legitimität zu erzielen. Und zwar nicht beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, sondern bei interessierten Dritten. Bei denen also, die nicht an der Aktion beteiligt sind. H E R F R I E D M Ü N K L E R : Das ist eine Beobachtung, die auch in ande- rer Hinsicht trägt: Die Feinde der Demokratie geben sich als deren Verteidiger aus. Sie drapieren sich als Demokraten oder als völkerrechtskonform. Für das interessierte Publikum ist es schwer herauszubekommen, wer wirklich ein Verteidiger der Demokratie oder ein Garant des Völkerrechts ist. B K : Herr Münkler, Sie entwerfen in Ihrem Buch „Die Welt in Aufruhr“ das Modell einer Pentarchie. Was meinen Sie damit? H M : Die Last des Hüters von Völkerrecht und Weltordnung wird auf fünf Mächte verteilt, weil die USA nicht mehr in der Lage und auch nicht willens sind, diese Aufgabe allein zu übernehmen. Sie hatten sich das zwar zugetraut, waren aber nicht besonders erfolgreich – denken wir nur an den Irak oder die zurückhalten- de Rolle von US-Präsident Obama in Syrien. Zudem ist ihre eige- ne Wählerschaft in erheblichen Teilen nicht mehr bereit, dieses Engagement für andere zu finanzieren und zu tragen. Deswegen die Überlegung: Funktioniert es mit einem nicht mehr, muss man parzellieren. Diesen Vorschlag habe ich spieltheoretisch durchdacht. Fünf ist eine gute Zahl, in der nicht so leicht Über- gewichte entstehen. Gerade in der europäischen Geschichte gibt es immer wieder Konstellationen, in denen sich solche Fünfer- systeme ausgebildet haben. Auch der Weltsicherheitsrat hat fünf Vetomächte als ständige Mitglieder. Diese Systeme funk- tionieren allerdings nicht auf Ewigkeit. C W : In der Außenperspektive geht etwas unter, dass die USA nicht nur Träger und Verteidiger des Völkerrechts waren. Sie haben das Völkerrecht über einen langen Zeitraum instrumen- tell zur eigenen Interessendurchsetzung verwendet. Was derzeit „Wir brauchen Diplomatie für die Zukunftsherausforderungen Cyber- und Informationskrieg.“ S A S K I A H I E B E R A k a d e m i e A k t u e l l 53

1.2024 Sicherheitspolitik Forschung „Die Last des Hüters von Völkerrecht und Weltordnung wird auf fünf Mächte verteilt.“ H E R F R I E D M Ü N K L E R Das Problem ist: Wir haben die UN notorisch überfordert – und das gilt vor allem für die Deutschen. Wir haben sie mit Erwar- tungen überlastet, die sie mit ihrer Ausstattung nie erfüllen konnten. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass die UN nicht so sind, wie manche sich das vorgestellt haben. C M : Wir brauchen auch mehr Realismus. Wir haben uns eine typisch deutsche Sichtweise auf die Vereinten Nationen ange- wöhnt. Die ursprüngliche Konzeption umfasste vier Staaten – vier Polizisten für die Weltpolitik. Dann wurde der Sicherheits- rat eingeführt. Man ging schon damals davon aus, dass diese Kooperation der Anti-Hitler-Allianz nicht auf Ewigkeit fortbe- steht. Um die Organisation als solche lebensfähig zu halten, legte man fest, dass sie nur dann im Bereich Krieg und Frieden handeln kann, wenn die fünf ständigen Mitglieder übereinstim- men. Wenn sie nicht übereinstimmten, war es in Ordnung, ein Veto einzulegen, um zu verhindern, dass diese Organisation handlungsunfähig wird. Jetzt sind wir wieder da, wo die UN angefangen haben. Der Sicherheitsrat wird möglicherweise für das nächste Jahrzehnt ausfallen, weil alle fünf nur in wenigen Fragen übereinstimmen werden. Aber letzten Endes machen die UN genau das, wofür sie gegründet wurden. Das kann man gut oder schlecht finden. Wir Deutschen hatten immer irrsinnige Erwartungen an diese Einrichtung als eine Art Quasi-Weltregie- rung und haben sie völkerrechtlich religiös überhöht. C W : Ich würde den entscheidenden Einschnitt nicht unbedingt am Anfang sehen. Wir hatten nach 1989/90 die Erwartung, dass die UNO handlungsfähig wird. Ein Stück weit haben sich die Dinge tatsächlich geändert. Meine Wahrnehmung ist, dass wir aktuell in die Zeit vor 1989 zurückgehen. Der Sicherheitsrat ist im Übri- gen im Moment nicht völlig handlungsunfähig: Die Zypernmis- sion wurde verlängert, es gibt eine Resolution gegen die Huthi- Angriffe, und es gibt sogar eine Resolution – bei Enthaltung Russlands – zu einem Einsatz in der Zentralafrikanischen Kooperationsveranstaltung „Die Welt ordnet sich neu“ Die hier in Auszügen dokumentierte Diskussion war Teil der gemeinsamen Veranstaltung „Die Welt ordnet sich neu“ von BAdW und Bayerischem Rundfunk, die am 8. Februar 2024 stattfand. Die vollständige Aufzeichnung der drei Panels über „Bedrohte Sicherheitspolitik“, „Verscho- bene Weltwirtschaft“ und „Umstrittenes Wertesystem“ finden Sie in den Mediatheken von BAdW und ARD alpha: badw.de/mediathek bzw. ardmediathek.de/alpha Republik. All das funktioniert, nur eben auf einem niedrigeren Level. Für kleinere Fragen ist der Sicherheitsrat weiterhin nicht bedeutungslos. Große Fragen werden aber vielleicht künftig woanders entschieden. S H : Ein Blick in die Zukunft ist wichtig. Wir brauchen die profes- sionelle internationale Diplomatie für die Zukunftsherausforde- rungen Cyber- und Informationskrieg. Wir brauchen ein neues Weltraumprotokoll. Wir brauchen Rüstungskontrollregime, und da müssen wir auch die relativ neuen Player mit dabeihaben. Allein schon diese Kontrollmechanismen, Institutionen und Regime sind für die Zukunft neu aufzulegen. Gerade im digitalen Zeitalter der Social-Media-Schlachten müssen wir an zukünftige Bedrohungen denken. Zur Einhegung dieser oder zumindest zur Planung von Verhandlungen diesbezüglich brauchen wir diese internationalen Organisationen. B K : Ich danke Ihnen ganz herzlich für diese Runde und Ihre Expertise. Dr. Saskia Hieber i s t D o ze nt i n f ü r I nt e r n at i o n a l e Po l i t i k m i t S c h w e r p u n k t A s i e n - Pa z i f i k a n d e r A ka d e m i e f ü r Po l i t i s c h e B i l d u n g i n Tu tzin g . P ro f. D r. Ca r l o M a s a l a i s t Pro fe s s o r f ü r I nt e r n at i o n a l e Po l i t i k a n d e r U n i ve r s i t ät d e r B u n d e s w e h r M ü n c h e n u n d M i t g l i e d d e r B aye r i s c h e n A ka d e m i e d e r Wi s s e n - s c h a ft e n. P ro f. D r. H e r f r i e d M ü n k l e r i s t e m e r i t i e r t e r Pro fe s s o r f ü r Po l i t i s c h e T h e o r i e u n d I d e e n g e s c h i c ht e a n d e r H u m b o l d t- U n i - ve r s i t ät z u B e r l i n. P ro f. D r. C h r i s t i a n Wa l t e r l e h r t Vö l ke r re c ht u n d Ö ffe nt l i c h e s Re c ht a n d e r L M U M ü n c h e n u n d i s t M i t g l i e d d e r B aye r i s c h e n A ka d e m i e d e r Wi s s e n s c h a ft e n. M o d e rat i o n u n d Fra ge n : B i rg i t Ka p p e l i s t Re d a k t e u r i n u n d M o d e rat o r i n b e i m B aye r i s c h e n Ru n d f u n k. S i e l e i t e t d a s B R- Po l i t i k m a g a z i n „ Ko nt rove r s “. A k a d e m i e A k t u e l l 55

1.2024 Akademie intern Chaperone – Maschinen der Proteinfaltung J o h a n n e s B u c h n e r e r h ä l t d i e O t t o - Wa r b u r g - M e d a i l l e 2 0 2 4 . Seit 1963 zeichnet die Gesellschaft für Biochemie und Molekularbiologie e. V. herausragende Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler für ihre Lebensleistung mit der Otto-Warburg-Medaille aus. 2024 fiel die Wahl auf Johannes Buchner (TU München/BAdW). Er ist einer der weltweit führenden Forscher auf dem Gebiet der Strukturbildung von Proteinen, einem zentralen Thema der Biochemie und Zellbiologie. Insbesondere zur Entdeckung und Erforschung der molekularen Chaperone hat er entscheidend beigetragen. Chaperone werden auch als zelluläre Maschinen der Proteinfaltung bezeichnet. Buchners bahnbrechende biophysikali- sche Studien, die oft mit in-vivo-Analysen kombiniert wurden, sind heute Grund- pfeiler der Chaperone-Literatur und haben unser Verständnis der Proteinfaltung in der Zelle tiefgreifend geprägt. Seine Erkenntnisse sind auch für die Produktion von therapeutischen Antikörpern von großer Bedeutung. Die mit 25.000 Euro dotierte Otto-Warburg-Medaille gilt als eine der höchsten Auszeichnungen auf den Gebieten der Biochemie und Molekularbiologie in Deutschland. Die Preisverleihung fand am 22. März 2024 statt. Pionier der Chaperone-Forschung: Johannes Buchner (TU München), seit 2010 Mitglied der BAdW. 57 Forschungen zur Makroökonomie Die Nationale Akademie der Wissenschaf- ten Leopoldina verlieh N i co l a Fu c h s - S c h ü n d e l n (Universität Frankfurt/ BAdW) die Carus-Medaille für ihre Ar- beiten auf dem Gebiet der quantitativen Makroökonomie. Sie erforscht die Arbeits- und Konsumentscheidungen privater Haushalte, u. a. im Hinblick auf den Ein- fluss von Politikmaßnahmen und Nor- men. So konnte sie zeigen, dass die unter- schiedliche Besteuerung von Ehepaaren die großen Unterschiede in den Arbeits- stunden verheirateter Frauen in europä- ischen Ländern und den USA erklärt. Sie analysiert ferner die Ursachen von Un- gleichheit innerhalb eines Landes, aber auch zwischen armen und reichen Län- dern. Zudem beschäftigt sie sich mit der Frage, wie sich ökonomische und politi- sche Präferenzen herausbilden. Internationale Vernetzung Ulrich L. Rohde wurde zum Fellow der Asia-Pacific Artificial Intelligence Associa- tion (AAIA) ernannt. Die regierungsunab- hängige Organisation, 2021 in Hongkong gegründet, fördert Austausch und Ver- netzung auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz. Der Hochfrequenz-Ingenieur Rohde ist Ehrenmitglied der BAdW. A k a d e m i e A k t u e l l l e / e i s : g n u l l e t s n e m m a s u Z t t o g r e d d e H . A ; s a a M e i g g a M ; d l e f t e i N i a K : s o t o F

1.2024 Im nächsten Heft: Im nächsten Heft: Dialekt heute Robert Schumanns Poetische Welt Forschung zu den baierischen Mundarten Ein neues BAdW-Forschungsprojekt I m p re s s u m H E R A U S G E B E R Prof. Dr. Markus Schwaiger Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (BAdW) R E D A K T I O N Dr. Ellen Latzin (el; verantwortlich) Dr. Isabel Leicht (il) Alina Penzel (ap) Gabriele Sieber (sie; Bildredaktion) Ruth Zapf (rz) V E R L A G U N D A N S C H R I F T Bayerische Akademie der Wissenschaften Alfons-Goppel-Str. 11, 80539 München Tel. 089/23031-1141, badw.de presse@badw.de, ISSN 1436-753X A R T D I R E C T I O N Studio Umlaut, studio-umlaut.com G R A F I K Daniela Wiesemann, danielawiesemann.de B I L D B E A R B E I T U N G Karin Martin D R U C K Landesamt für Digitalisierung, Breitband und Vermessung, Alexandrastr. 4, 80538 München P A P I E R SoporSet Premium Offset 120 gr/m², LuxoArt Samt 200 gr/m² W d A B ; u a k c i w Z s u a H - n n a m u h c S - t r e b o R : s o t o F „ A K A D E M I E A K T U E L L“ erscheint 3 x jährlich. Der Bezugspreis ist im Mitgliedsbeitrag der Freunde der BAdW enthalten. Die Texte dürfen nur mit Ge- nehmigung der BAdW reproduziert werden. Die Wiedergabe der Abbildungen ist mit den Inhabern der Bildrechte abzuklären. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung der Autoren wieder. Das E-Paper der Zeitschrift finden Sie auch unter badw.de. Z E I T S C H R I F T A B O N N I E R E N badw.de/die-akademie/presse/ zeitschrift-akademie-aktuell Wissenschaft erleben – Tag der offenen Tür Türen auf für Neugierige! Erleben Sie die Faszination von Wissenschaft und Forschung: Am Samstag, den 4. Mai 2024 öffnet die Bayerische Akademie der Wissenschaften ihre Türen. Kommen Sie mit Forscherinnen und Forschern aus ganz Bayern über ihre Projekte ins Gespräch, erleben Sie anschauliche Experi- mente in den Natur- und Technikwissenschaften. Diskutieren Sie bei interakti- ven Panels über den Beitrag der Wissenschaft zu aktuellen Herausforderungen, seien Sie dabei, wenn „Zehn Fragen an die Wissenschaft“ quer durch unter- schiedlichste Fächer gestellt werden. Lernen Sie interessante Persönlichkeiten auf dem Wissenschaftssofa näher kennen, oder erkunden Sie bei Führungen einen Teil der Münchner Residenz, der eine spannende Geschichte hat und heute Sitz der größten deutschen Landesakademie ist. Mehrere Konzerte sor- gen für Ohrenschmaus, und auch für Kinder und Jugendliche haben wir ein abwechslungsreiches Programm zum Mitmachen vorbereitet: von der archäo- logischen Schatzsuche über erste Versuche im Programmieren bis zur Explo- sion kleiner Vulkane. Was? Tag der offenen Tür an der BAdW Wann? Samstag, 4. Mai 2024, 11–18 Uhr Programm unter: openbadw.de/2024 Wissenschaft für alle Altersgruppen, darunter Experimente bei tiefsten Temperaturen: am 4. Mai 2024 in der BAdW. A k a d e m i e A k t u e l l A k a d e m i e A k t u e l l 59 59