32 Forschung I Zeitgeschichte J a h r b u c h 2 0 2 4 Auf welcher Basis fanden die Nürnberger Nachfolgeprozesse statt? Simone Derix: Es gab verschiedene Konzepte, wie mit den Kriegs- verbrechern umgegangen werden sollte. Man hat sich dann da- für entschieden, nicht einfach Rachegelüste walten zu lassen, sondern die Taten zu prüfen und rechtlich zu sanktionieren. Da- zu wurden eigene Verbrechenskategorien geschaffen, Verbre- chen gegen den Frieden sowie gegen die Menschlichkeit. Diese wurden im August 1945 als Anhang zum Londoner Abkommen die gemeinsame Grundlage für den alliierten Hauptkriegsver- brecherprozess 1945/46. Die Alliierten führten auf Grundlage des Kontrollratsgeset- zes die Nachfolgeprozesse in ihrer jeweiligen Besatzungszo- ne durch. Deshalb führten die USA in Nürnberg von 1946 bis 1949 ihre Nachfolgeprozesse durch. Was war das Besondere daran? Christoph Safferling: Diese zwölf großen Prozesse vertraten ei- ne spezifische Anklagestrategie. Man wollte die Funktionseliten Deutschlands repräsentieren, stellvertretend für die gesamte Gesellschaft, und deren Involviertheit in den Nationalsozialis- mus verdeutlichen. Sie waren quasi das Vorbild und schufen auch den rechtlichen Rahmen für die deutschen Prozesse gegen NS-Verbrecher, die ab Ende der 1950er Jahren folgten, etwa beim Ulmer Einsatzgruppen-Prozess im Jahr 1958 oder den Frankfur- ter Auschwitz-Prozessen der frühen 1960er Jahre. Die Nachfolgeprozesse richteten sich u. a. gegen Ärzte, Juris- ten, das SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt, Industri- elle die sog. Einsatzgruppen – diese Einteilung in Gruppen ist ungewöhnlich. Simone Derix: Es ging darum, gesellschaftliche Zusammenhän- ge ausfindig zu machen. Innerhalb der Funktionseliten galt aber weiterhin das strafrechtliche Prinzip, die Taten einzelnen Perso- nen nachzuweisen. Christoph Safferling: Die Auswahl ist auch einer gewissen Zufäl- ligkeit zu verdanken. Roland Freisler, der Präsident des Volksge- richtshofs, war z. B. im Februar 1945 einer Bombardierung zum Opfer gefallen. Aber man fand weitere hochrangige Vertreter des Reichsjustizministeriums, und diese klagte man an. Ein weiteres Problem waren die Beweise und Indizien. Viele Beteiligungen an den Verbrechen klärten sich erst in den Jahren nach Kriegsende überhaupt auf. Christoph Safferling: Der erste Prozess begann im Dezember 1946, der letzte endete im April 1949, kurz vor Gründung der Bundesrepublik. Die Beweislage war in gewissen Dingen erdrü- ckend, aber bei Detailfragen gab es ganz viel Unsicherheit. Ein Beispiel: Das Protokoll der Wannseekonferenz über die syste- matische Vernichtung jüdischen Lebens in Europa wurde erst 1947 gefunden. Es konnte im Hauptkriegsverbrecher-Prozess kein Beweisgegenstand sein, und daher spielte der Holocaust als sol- cher auch keine große Rolle. Aber im Wilhelmstraßen-Prozess wurde das Protokoll aktenkundig. Generell wurden daher die Individuen angeklagt, gegen die man Beweise hatte. Simone Derix: Man hat zu ganz vielen Personen und Unterneh- men ermittelt und musste dann eine Auswahl treffen. Das Ziel dieser Prozesse war, dass das, was man verhandelt, wirklich be- legbar sein muss. Auch vom Arbeitsaufwand her wäre es kaum möglich gewesen, alle zu verurteilen, die sich schuldig gemacht haben. Aber wir erkennen eine Steigerung. Im Hauptkriegsver- brecher-Prozess gab es 24 Angeklagte, in den Nachfolgeprozes- sen ursprünglich immerhin 185. Christoph Safferling: Wenn wir das Archivmaterial digitalisieren und mit modernen Tools analysieren können, erhoffen wir uns auch Aufklärung über strategische Überlegungen der Amerika- ner, wer angeklagt wurde und wer (noch) nicht. Was bezweckten die Ankläger genau mit den Prozessen? Simone Derix: Die Idee war, dass das Völkerrecht in der Lage ist, solche Menschheitsverbrechen zu ahnden. Und gleichzei- tig zielten die Prozesse auch auf eine Aufklärung der deutschen Bevölkerung. Das war ein Teil des Reeducation-Gedankens: Wir zeigen euch in einem juristischen Verfahren, was passiert ist. Daher wurde dort auch die deutsche Geschichte verhandelt. Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher wurde weltweit mit großem Interesse verfolgt. Das öffentliche Interesse an den Nachfolgeprozessen nahm dagegen ab. Simone Derix: Das hatte verschiedene Gründe. Mit dem Haupt- kriegsverbrecher-Prozess war zunächst auch international ein gewisses Bedürfnis befriedigt worden. In der deutschen Be- völkerung ging zudem die Bereitschaft, sich kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen, zurück. Und dann gab es Gruppen, die das Vorgehen generell kritisch sahen. Dazu gehörten die jüdischen Überlebenden, die beklagen, wie wenig die Verfolgung von Jüdinnen und Juden im Vordergrund stehe. Welche Themenkomplexe wurden denn behandelt? Simone Derix: Bei den drei Wirtschaftsprozessen, dem Flick-Pro- zess, dem IG Farben-Prozess und dem Krupp-Prozess, z. T. auch im Wilhelmstraßen-Prozess, standen wirtschaftliche Themen im Vordergrund, etwa die Zwangsarbeit, die ökonomische Plünde- rung der besetzten Gebiete, die Enteignung jüdischen Vermö- gens, aber auch die finanzielle Unterstützung der NSDAP und ihrer Organisationen. Im Ärzteprozess stand vor allem die Ermor- dung von Menschen unter dem Vorwand der NS-Rassenhygiene im Fokus. Beim Juristenprozess ging es um die Beteiligung von Juristen an der Konstruktion sowie der Realisierung eines Un- rechtsstaats. Die beiden Militärprozesse behandelten Themen wie Erschießung von Geiseln und völkerrechtswidrige Behand- lung von Kriegsgefangenen, aber auch die Deportation und Tö- tung der Zivilbevölkerung. Wenn man alles zusammensetzt, ent- steht ein Gesamtbild, wie sich Recht in Unrecht verwandelte. Unterschieden sich die Prozesse nach juristischen Gesichts- punkten? Christoph Safferling: Grundsätzlich waren die Prozesse vergleich- bar, aber es gab starke Nuancen. Es ist etwas anderes, einen Poli- tiker zur Verantwortung zu ziehen, oder einen Arzt, der Patienten verhungern lässt, oder einen Juristen, der ein Gesetz formu- liert, auf dessen Grundlage Tausende zum Tode verurteilt wer- den. Das sind unterschiedliche juristische Zurechnungsfragen. Häufig war das Vorgehen arg pauschal und die Involviertheit der deutschen Gesellschaft insgesamt in den Nationalsozialis- mus wurde unterschwellig immer behauptet. Für das Strafrecht braucht man aber eine individuelle Schuld. Da erhoffen wir uns aus dem Projekt Aufklärung. Und das nicht nur aus historischem Interesse, sondern, weil sich derartige Fragen auch heute stel- len. Kann etwa der russische Präsident verfolgt werden für die Verbrechen in Butscha? ) 6 4 9 1 ( o i r a d d A D y a R ‘ : o t o F , D - 8 7 1 - A R . r N I I / 5 6 , g r e b n r ü N A t d a t S : . b b A