Fokus !."#"" Sowjetunion. Als wir in Deutschland anka- men, haben wir uns in der jüdischen Gemeinde angemeldet, wo es im Verhält- nis zu dem, was ich bisher kannte, sehr religiös zuging. Das hat mich zunächst vollkommen überfordert, auch weil die Gottesdienste und große Teile des Religi- onsunterrichts auf Hebräisch stattfanden. Außerdem kannte ich die Riten nicht. Ich habe deshalb am Anfang diese Zugehö- rigkeit zur jüdischen Gemeinde als einen weiteren Ort empfunden, an den ich nicht passte und wo ich Angst haben musste, etwas falsch zu machen. Es war eigentlich das Gegenteil von einem Ort der Gebor- genheit und Ankunft. Nach ein, zwei Jah- ren aber habe ich mich in die jüdische Gemeinde geradezu hineingestürzt, weil es von vielen Seiten von mir erwartet wur- de. Die Lehrerschaft in der kleinen schwä- bischen Stadt beispielsweise freute sich unglaublich, dass eine Jüdin auf der Schu- le war. Plötzlich musste ich im Religions- unterricht der anderen jüdische Feste erklären, die ich gar nicht kannte. Ich habe viele Jahre gebraucht, um meinen eigenen Zugang dazu zu finden, was für mich Jüdischsein bedeutet – unabhängig von dem, wie es andere sehen oder was sie gerne in mir sehen würden. Wie würdest du die unterschiedlichen Blickwinkel der ersten Generation von Kontingentflüchtlingen, zu der deine Eltern gehören, und der zweiten, also deiner Generation, auf Deutschland beschreiben? Für meine Eltern hatte in Deutschland alles gut zu sein, weil Hinterfragen be- deutet hätte, dass man vielleicht eine fal- sche Entscheidung getroffen hatte, die aber nicht mehr rückgängig zu machen war. Ein Beispiel dafür sind die Lichter- ketten, die nach den rassistischen An- schlägen in Mölln stattgefunden und an denen wir teilgenommen haben. Meine Mutter schrieb mit Tränen in den Augen Briefe nach Hause, dass die Deutschen gegen Fremdenfeindlichkeit demonstrier- ten, aber sie schrieb nichts von den Anschlägen. Wegen dieser Wahrneh- mung meiner Eltern habe ich erst später als Erwachsene kapiert, dass den Demos schlimmster, gewaltbereiter Rassismus vorangegangen war. Trotzdem begann ich als Kind – auch weil ich relativ schnell die Sprache intuitiver und tiefer beherrschte „ Ich musste in der Schule nicht nur jüdische Feste erklären, sondern auch den Nah- ostkonflikt, von dem ich nur eine entfernte Ahnung hatte.“ als meine Eltern –, bestimmte Dinge wahrzunehmen, die meine Eltern nicht hören wollten. Ein Beispiel: Im Rahmen des ehrenamtlichen Engagements trifft man durchaus auf Menschen, die sich selbst unglaublich feiern und eine gewis- se Hierarchie auch genießen. Unter ande- rem kam regelmäßig eine Frau ins Wohn- heim, die es vor allem toll fand, jüdischen Menschen zu helfen. Sie brachte mehr- mals eine Kamera mit, um sich mit „ihren jüdischen Freunden“ zu fotografieren. Wir Kinder wollten uns immer verstecken, wenn sie kam. Das fanden meine Eltern ganz unhöflich. In ihren Augen war das ein guter Mensch, der Essen brachte. Auch als ich anfing, kritisch zu gesell- schaftlichen Debatten zu sprechen oder zu schreiben, hatten meine Eltern fast so etwas wie Angst, die vielleicht zum Teil aus der fehlenden Meinungsfreiheit der Sowjetunion entstanden war, aber auch von dem Gefühl herrührte, Deutschland Dankbarkeit zurückgeben zu müssen. In deiner Generation von Kontingent- geflüchteten gibt es mehrere Menschen, die im öffentlichen Leben stehen und sehr deutliche Forderungen an die deut- sche Gesellschaft stellen, auch hinsicht- lich des Umgangs mit Erinnerungskultur und Antisemitismus. Warum? Soweit ich für uns als Generation spre- chen kann, ist das Ansinnen, sich von be- stimmten Dingen zu distanzieren, des- halb so groß, weil wir am eigenen Leib erfahren haben, wie man bestimmte „Merkmale“ – wie „jüdisch“, „Opfer“, „geflüchtet“ – gesellschaftlich benutzt. Ich musste in der Schule nicht nur jüdi- sche Feste erklären, sondern auch den Nahostkonflikt, von dem ich nur eine ent- fernte Ahnung hatte. Ich wurde jedes Jahr am &. November als Einzige aus der Klasse und vor der ganzen Klassenge- meinschaft gefragt, ob ich zu Gedenkver- anstaltungen gehe. All das, was an der Erinnerungskultur nicht gut läuft, haben wir an uns selbst erfahren. Deswegen sind wir feinfühlig, wenn es darum geht, Menschen oder Zugehörigkeiten für irgendeine Form der öffentliche Zelebrie- rung zu verwenden. Was stört dich besonders an der Erinne- rungskultur und am Umgang mit Anti- semitismus? Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich könnte ein Kabinett der skurrilsten Anfragen erstellen – ich habe tatsächlich schon darüber nachgedacht, eine Ausstel- lung mit den schlimmsten E-Mail-Anfra- gen zu machen. In einer Mail wurde ich etwa gefragt, ob ich an einer Fragerunde zum Thema Judentum teilnehmen würde, und als Beispielfrage stand in Klammern: „Sind Ihre Söhne beschnitten?“ Es geht also ganz viel um Übergriffigkeit und auch darum, Pars pro Toto für etwas stehen zu müssen, aber nicht gefragt zu werden, ob man dafür überhaupt stehen möchte. Und es geht um dieses Erinnerungstheater, !" A k a d e m i e A k t u e l l