Heft 2.2023 Ö KO LO G I E : Moore im Klimawandel G E S C H I C H T E : Arisierung der Gelehr tenrepublik I N S C H R I F T E N : Landshuts schöne Männer V e r m i t t l u n g D i g i t a l i s i e r u n g , F o r s c h u n g , h e u t e D i a l e k t

2.2023 Editorial Anplerzen, blästern oder dächelen – was sagt man in den Regionen Bayerns? „Bayerns Dialekte Online“ gibt Auskunft. Liebe Leserinnen und Leser! J ede Provinz liebt ihren Dialekt; denn er ist doch eigentlich das Element, in welchem die Seele ihren Atem schöpft.“ So charakterisierte Goethe die Bedeutung der regio- nalen Sprachvielfalt. Auch heute steht Dialekt für Heimat und Identität – und wird von Politik oder Wirtschaft gerne für entsprechende Zwecke instrumentalisiert –, zugleich verbinden viele Menschen mit Mundart aber auch Provinzialität oder Rückständigkeit. Dabei hat die Sprach- und Lernforschung den Dialekt längst rehabilitiert. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Dialekten begann in Bayern vor rund 200 Jahren an der Akademie. In diesem Umfeld verfasste Johann Andreas Schmeller, der Begründer der modernen Mundartforschung, sein „Bayerisches Wörter- buch“. Heute entstehen an der BAdW Wörterbucher zu den drei Hauptdialekten Bayerns: Bairisch, Fränkisch und Schwäbisch. Sie arbeiten mit modernsten Metho- den der Digital Humanities und der Bürgerforschung (Citizen Science). Diese Ansätze verändern die Forschung derzeit massiv und eröffnen völlig neue Möglichkeiten, was etwa die erfolgreiche Onlineplattform „Bayerns Dialekte Online“ zeigt, die alle drei Wörterbücher unter einem digitalen Dach vereint. Erfahren Sie mehr darüber in dieser Ausgabe. Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen! k c e b m e r B . R ; W d A B / r e b u ä R . L : s o t o F P r o f. D r. M a r k u s S c h w a i g e r P r ä s i d e n t d e r B a y e r i s c h e n A k a d e m i e d e r W i s s e n s c h a f t e n A k a d e m i e A k t u e l l 3

2.2023 Inhalt Nr. 80 6 Kurz notiert Nachrichten aus Wissenschaft und Forschung Fokus 8 Dialekt heute 10 Bayerns Dialekte erforschen Das Fach Dialektologie an der BAdW 14 Dialekt in der Schule Von Comics bis Krimi: S. 42 | Durch Entwässerung und Klima- wandel stark bedroht: die Moore. 37 Auf den Punkt Rainer Bromme über die Bedeutung von der UDI-Schülertag in Würzburg Wissenschaftskommunikation 18 „Sprachliche Vielfalt betrifft alle und ist gewinnbringend“ Ein Gespräch über Dialekt und Sprach- vielfalt im Unterricht 38 Lesenswert mit Alexander Rudolph 40 Kurz vorgestellt 22 Fragen an neue Akademiemitglieder Dialekt und Identität Über die soziale Bedeutung von Dialekten in Bayern 26 So klingt Bayern! Das Dialekt-Quiz des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen und für Heimat 28 Forschung 42 Ein einzigartiger Lebensraum Warum Moore Standardsprache, Dialekt und für Klimaschutz und Artenvielfalt Diskriminierung Ein Plädoyer für sprachliche Vielfalt wichtig sind 48 32 Digitale Dialektologie Landshuts schöne Männer Eine neuer Band Alle bayerischen Dialekte im Web: über die Inschriften der „Bayerns Dialekte Online“ Stadt Landshut n e g n a L n o v a k l e J ; n n a m l l o K s e n n a h o J : s o t o F 52 Arisierung der Gelehrtenrepublik Zum Umgang der BAdW mit Nobelpreisträger Richard Willstätter im Jahr 1933 56 Akademie intern 58 Termine und Mediathek / Impressum 60 Lieblingsstück Unser Titelbild zeigt eine Arbeit zum Wort „Kartoffel“ (in den verschiedenen Regionen Bayerns „Erdapfel“, „Erdbirne“, „Grundbirne“ oder auch „Bodenbirne“ genannt) von Sarah Illenberger. Die preisgekrönte Künstlerin entwirft mit verschiedenen Materialien und Techniken Installatio- nen, die dann fotografiert werden. Gewöhnlichen Gegenständen des All- tags gibt sie so ganz neue Bedeutungen. Für den Dialekte-Schwerpunkt von „Akademie Aktuell“ hat sie sich mit unterschiedlichen Ausdrücken und Redensarten auf Bairisch, Fränkisch und Schwäbisch auseinandergesetzt. A k a d e m i e A k t u e l l 5

2.2023 Kurz notiert Lebensadern in der Landschaft Flüsse und Seen gelten als Lebens- adern in der Landschaft und sind für die Biodiversität sowie für viel- fältige menschliche Nutzungen von großer Bedeutung, etwa für die Trinkwasserversorgung, Landbe- wirtschaftung, Abwasserentsorgung oder Freizeit und Erholung. Ihr Schutz hat daher eine besondere Bedeutung – gleichzeitig werden die Zielmarken im europäischen Gewässerschutz derzeit verfehlt. Der Sammelband „Gefährdung und Schutz von Oberflächengewässern“ des Forums Ökologie der BAdW zeigt die größten Belastungen und stellt neue Managementansätze für einen nachhaltigen Gewässer- schutz sowie Beispiele für eine erfolgreiche Gewässersanierung vor. Online lesen: oekologie.badw.de EIN TAG ALS QUANTENFORSCHERIN Girls’ Day am Walther- Meißner- Institut der BAdW. Tiefste Temperaturen – verblüffende Materialeigenschaften: Zehn Schülerinnen waren beim diesjährigen Girls’ Day zu Gast im Walther-Meißner-Institut der BAdW in Garching. Höhepunkt war die Führung im Chemie-Labor, im Reinraum und im Quantencomputerlabor mit Kryostat. Am Walther-Meißner-Institut erzeugen Phy- sikerinnen und Physiker Temperaturen von -273 °C und erforschen damit Eigen- schaften von Materialien, die man nur bei diesen tiefen Temperaturen beobachten kann. Ziel ist es, neue Technologien zu entwickeln, insbesondere Prozessoren für Quantencomputer. A k a d e m i e A k t u e l l l e : g n u l l e t s n e m m a s u Z V Q M / a p m a t S a k k i M ; g n i h s i l b u P i 2 i ; l e k n w k c i l i B / r e d r e D . S : s o t o F EIT Z EUG Z E N im digitalen Zeitalter D i e I n g e n i e u r i n A g n e s K a p o s i , d i e a l s H o l o c a u s t - Ü b e r l e b e n d e e i n d i g i t a l e s Z e i t z e u g - n i s a b g e g e b e n h a t , w a r i m M a i z u G a s t i m L e i b n i z - R e c h e n z e n t r u m . I m Z e n t r u m d e r Ve r - a n s t a l t u n g s t a n d e n e t h i s c h e A s p e k t e t e c h n i s c h u n t e r - s t ü t z t e r E r i n n e r u n - g e n , d i e I n t e r - a k t i o n z w i s c h e n M e n s c h u n d M a - s c h i n e u n d G r e n z e n d e r Te c h n o l o g i e n . 7

2.2023 Fokus Zwischen Kulturerbe und Klischee – in manchen Bereichen der Gesellschaft ist seit einigen Jahren ein regelrechter Boom des Dialekts erkennbar, zugleich gilt Mundart als rück- ständig, provinziell und stets vom Aussterben bedroht. Aus welchen Blickfeldern befasst sich die Forschung in Bayern aktuell mit den Dialekten, und wie wirken ihre Ergebnisse wie- derum ganz praktisch in die Gesellschaft hinein? Unsere Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft und Praxis geben Einblicke in ihre Arbeit und stellen Angebote vor für alle, die sich intensiver mit Bairisch, Fränkisch und Schwäbisch befassen wollen. l l e u t k A e i m e d a k A r ü f r e g r e b n e l l I h a r a S : o t o F A k a d e m i e A k t u e l l 9

Fokus F R Ä N K I S C H „ Draamsubbm“ [Traumsuppe] verträumter Mensch A k a d e m i e A k t u e l l 11

2.2023 Fokus Dialekträume, Verwaltungsbezirke und markante Landschaften in Bayern. Bayerischen Sprachatlas“ (2006) allge- mein verständlich dargestellt. Alle Sprach- belege sind in der „Bayerischen Dialekt- datenbank“ (BayDat) an der BAdW digital archiviert (baydat.badw.de). Derzeit werden an der Akademie alle drei Hauptmundarten Bayerns – Bai- risch, Fränkisch und Schwäbisch – doku- mentiert und erforscht: Das „Bayerische Wörterbuch“ untersucht den bairischen Wortschatz aus Altbayern vom Frühmit- telalter bis zur Gegenwart. Es erscheint seit 1995 als gedrucktes Wörterbuch, das fortlaufend publiziert wird. Hingegen bearbeiten das „Fränkische Wörterbuch“ (räumlich an der Universität Erlangen- Nürnberg angesiedelt) und das „Dialek- tologische Informationssystem für Bay- erisch-Schwaben“ ausschließlich den Mundartwortschatz der Gegenwart und publizieren nur digital. Bayerns Dialekte Online Gemeinsam ist allen drei Projekten, dass sie seit 2021 ihre Forschungsergebnisse A k a d e m i e A k t u e l l 6 0 0 2 , s a l t a h c a r p S r e h c s i r e y a B r e n i e l K / g i n ö K W . , n n e R . M : e t r a K B A I R I S C H O D E R B AY E R I S C H ? Die Dialekte in Altbayern (= Oberbayern, Niederbay- ern, Oberpfalz und kleinere angrenzende Regionen) nennen die Dialektforscher Bairisch, sie schreiben den Begriff mit -ai-. Bairisch bezeichnet einen bestimmten Dialekttyp, der außer in Alt- bayern auch in Österreich und darüber hinaus gesprochen wird. Die Schreibung bay(e)- risch mit -ay- bezieht sich hin- gegen auf das geographische und politische Gebilde des heutigen Freistaats sowie der Fürsten- und Herzogtümer, die ihm vorausgingen. auf der Internetplattform „Bayerns Dia- lekte Online“ (BDO) unter bdo.badw.de frei zur Verfügung stellen. Als erstes lexikographisches Informationssystem vereint „Bayerns Dialekte Online“ ver- schiedene Rechercheansätze: Im Unter- schied zur anderen (vernetzten) Onli- newörterbüchern ermöglicht die Platt- form nicht nur eine Suche über das Lemma, sondern auch nach Bedeu- tung, Sachgruppen, Grammatik, Region/ Ort, Wortherkunft u. v. a. m. Die Belege können zudem auf Karten dargestellt und ggf. multimedial mit Ton- und Bilddateien verknüpft werden. Grundlage für die drei großen Dia- lektwörterbücher der Bayerischen Aka- demie der Wissenschaften sind rund 17 Millionen Mundartbelege, die insbe- sondere mithilfe von Fragebögen ge- sammelt wurden. Beteiligt waren und sind insgesamt weit über 15.000 Mundart- sprecher und -sprecherinnen in ganz Bayern, die den Projekten ihre priva- ten Mundartsammlungen zur Verfü- gung gestellt und seit Jahrzehnten Fragen der Wörterbuchredaktionen beantwortet haben. „Bayerns Dialekte Online“ spiegelt diese Mundartsamm- lung wider und ist daher ein Online- Wörterbuch, zu dem viele Tausend Men- schen aus allen Regionen Bayern aktiv beigetragen haben. Als Wissenschafts- plattform ist „Bayerns Dialekte Online“ die Drehscheibe für eine Forschung, die aus der Bevölkerung heraus entsteht und wiederum unmittelbar in die Bevöl- kerung hineingetragen wird. Prof. Dr. Anthony Rowley ist Vorsitzender des Projektaus- schusses „Bayerisches Wör terbuch“ der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und apl. Professor für Deutsche Philologie an der LMU München. Dr. Andrea Schamberger-Hir t ist Germanistin und leitet seit 2019 die Redaktion des „Bayerischen Wör terbuchs“ an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 13

2.2023 Fokus Dialekt in der Schule Vo n A s t e r i x - C o m i c s b i s z u r K r i m i r e i h e „ D a d o r d W ü r z b u r c h “: D e r j ä h r l i c h e U D I - S c h ü l e r t a g i n W ü r z b u r g b e l e u c h t e t d i e R o l l e d e s D i a l e k t s i n d e r G e s e l l s c h a f t . Vo n M o n i k a F r i t z - S c h e u p l e i n A ls Nachfolgeeinrichtung des For- schungsprojekts „Sprachatlas von Unterfranken“ (SUF) hat 2003 das Unterfränkische Dialektinstitut (UDI), das am Lehrstuhl für deutsche Sprach- wissenschaft des Instituts für deutsche Philologie der Universität Würzburg angesiedelt ist, seine Arbeit aufgenom- men (unterfraenkisches-dialektinstitut- wue.de). Neben Forschung, Kultur- und Öffentlichkeitsarbeit bildet die Zusam- menarbeit mit Schulen in Unterfranken einen weiteren Arbeitsschwerpunkt des Instituts. Zu den schulischen Angeboten zählen Schulbesuche, ein Lernzirkel sowie die Lehrerhandreichung „Dialekt und …“. Zudem veranstaltet das UDI einmal im Jahr an der Universität Würzburg einen Schülertag. 2023 fand er zum 16. Mal mit 260 Schülerinnen und Schülern aus ganz Unterfranken statt. Während in den l l e u t k A e i m e d a k A r ü f r e g r e b n e l l I h a r a S : o t o F Anfangsjahren nur die achte gymnasiale Jahrgangstufe eingeladen wurde, können sich inzwischen auch siebte und neun- te Klassen sowie Realschulen anmelden. Der U DI-Schüler tag Thematisch lag der Schwerpunkt zu Beginn auf den Dialekten in Unterfran- ken. Seit 2006 stehen die Schülertage unter wechselnden Mottos, die die Rolle des Dialekts in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft beleuchten: „Dialekt und Medien“ (2006), „Dialekt und Werbung“ (2007/2013), „Dialekt und Theater“ (2008), „Dialekt und Lyrik“ (2009/2014), „Dialekt und Film“ (2010), „Dialekt und Musik“ (2011/2012), „Dialekt und Soziale Medien“ (2015/2016) sowie „Dialekt und Humor“ (2017/2018). 2019 lautete das Thema „Dia- lekt und Comics“, das auch 2020 noch einmal behandelt werden sollte. Dieser Schülertag musste jedoch aufgrund der Pandemie abgesagt werden. 2021 und 2022 gab es einen rein digitalen Wettbe- werb, dessen Thema „Dialekt und Essen“ für den Schülertag 2023 erneut aufgegrif- fen wurde. Da die Klassen aus dem gan- zen Regierungsbezirk zum Schülertag anreisen, beginnt die Veranstaltung um 10 Uhr und endet gegen 15 Uhr, damit die Fahrt zum Heimatort gesichert ist. Zugehör t und nachgefragt „Zugehört und nachgefragt“ lautet die Devise am Vormittag. In Vorträgen und Diskussionen wird das Motto näher be- leuchtet. Das Thema „Dialekt“ gestal- tet das UDI immer mit einem anschau- lichen Kurzvortrag über die Dialekte in Unterfranken, in den die Klassen aktiv A k a d e m i e A k t u e l l 15

2.2023 Fokus S C H W Ä B I S C H , F R Ä N K I S C H , B A I R I S C H „Windsbraut“, „Windhex“ Wirbelwind, quirliger Mensch A k a d e m i e A k t u e l l 17

2.2023 Fokus „Sprachliche Vielfalt betrifft alle und ist gewinnbringend“ M e d i e n t i p p s , F o r t b i l d u n g e n , E - L e a r n i n g : E i n G e s p r ä c h m i t C h r i s t i n a N e u g e b a u e r u n d N i n a R u i s i n g e r ü b e r D i a l e k t u n d S p r a c h v i e l f a l t i m S c h u l u n t e r r i c h t . Sie sind beide am Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung in München (ISB) unter anderem für die Dialekte zuständig. Was sind konkret Ihre Aufgabengebiete? Grundsätzlich hat das ISB die Aufgabe, Lehrkräfte an bayerischen Schulen bei der Konzeption und Gestaltung des Unter- richts zu unterstützen, neue Impulse zu setzen und aktuelle Erkenntnisse aus der Wissenschaft aufzugreifen und für die Schulpraxis nutzbar zu machen. Das gilt auch für das Thema Dia- lekt bzw. sprachliche Vielfalt. Konkret kommen wir dieser Aufgabe – zusam- men mit unserem Arbeitskreis „Dialekte und regionale Kultur“, der sich aus Lehr- kräften verschiedener Schularten und Regierungsbezirken bzw. Dialekträumen l l e u t k A e i m e d a k A r ü f r e g r e b n e l l I h a r a S : o t o F „ Eine der größ- ten Heraus- forderungen ist es, die Lehr- kräfte überhaupt zu erreichen.“ zusammensetzt – mit vielfältigen An- geboten und Projekten nach, insbe- sondere mit unserem Internetportal dialekte.schule.bayern.de. Inwiefern spielen Dialekte heute in der Schule eine Rolle? Ob und wie viel Dialekt an Schulen gesprochen wird, ist eine Frage, die sich nicht pauschal beantworten lässt, da es große Unterschiede gibt. Dialekt und regi- onale Umgangssprache sind aber sicher- lich Kommunikationsmittel an Schulen, d. h. sie werden von Schülerinnen, Schü- lern und Lehrkräften im Austausch mit- einander als sprachliche Ausdrucksform genutzt. Der Dialekt ist hier in der münd- lichen Kommunikation ein wichtiger Teil der Sprachkultur. A k a d e m i e A k t u e l l 19

2.2023 Fokus Mundartliche Literatur oder Theaterstücke eröffnen einen möglichen Zugang zum Thema Dialekt, auch in der Schule. Szene aus dem fränkischen Klassiker „Schweig, Bub!“ von Fitzgerald Kusz in der Fernsehfassung (1991), mit Alfred Händel, Wolf Brannasky, Gabriele Kastner, Elke Griesbach, Sascha Edelmann, Thilo Prückner, Elisabeth Welz und Gisela Schneeberger. „ Erst einmal muss man kon- statieren, dass Diskriminie- rung aufgrund von Sprache leider in beiden Richtungen auftaucht.“ s e g a m i o g a m i / A P K : o t o F begründet. Für die Schule konzentrieren wir uns auf jeden Fall darauf, Vorurteile in beide Richtungen zu entkräften und die Toleranz gegenüber sprachlicher Vielfalt zu stärken. Haben Sie Lesetipps für Jugendliche und Erwachsene, die sich für mundartliche Literatur interessieren? Wir sind gerade dabei, eine Art Daten- bank von Mundartautorinnen und -auto- ren zusammenzustellen sowie solcher Autorinnen und Autoren, deren Werke sich mit regionaler Sprache und Kultur be- schäftigen. Diese wird im Laufe des Jahres auf dialekte.schule.bayern.de aufrufbar sein und viele Tipps bereithalten. Außer- dem erweitern wir kontinuierlich die Lesetipps in unserem Leseförderportal lesen.bayern.de – hier finden Interes- sierte eine ganze Reihe Buchempfehlun- gen, darunter einige in und zum Thema Mundart. Fragen: el Christina Neugebauer ist Gymnasiallehrerin für Deutsch und Französisch und Referentin für Leseförderung , Schulbibliotheken und Dialekte in der Grundsatzabtei- lung des Staatsinstituts für Schul- qualität und Bildungsforschung . Sie unterrichtet außerdem am Lehr- stuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur der Universität Regensburg . Nina Ruisinger ist Gymnasiallehrerin für Deutsch und Englisch und Referentin für Leseförderung , Schulbibliotheken und Dialekte in der Grundsatzabtei- lung des Staatsinstituts für Schul- qualität und Bildungsforschung . A k a d e m i e A k t u e l l 21

2.2023 Fokus Dialekt und Identität W e l c h e W e r t v o r s t e l l u n g e n u n d I d e n t i t ä t e n k o m m e n d u r c h S p r a c h e z u m A u s d r u c k ? Ü b e r d i e s o z i a l e B e d e u t u n g v o n D i a l e k t e n i n B a y e r n . Vo n K o n s t a n t i n N i e h a u s D ass die Dialekte in Bayern sozial und kulturell bedeutsam sind, ist zunächst nichts Neues. Doch erst seit einiger Zeit sind Meinungen und Einstel- lungen dazu vermehrt als erforschens- werter Teil regionaler Sprachidentitäten erkannt worden, und zwar insbesonde- re unter Leitfragen wie: Warum halten Menschen, die Dialekt sprechen, ganz bestimmte Laute, Wörter oder grammati- sche Konstruktionen für typisch in ihrem Dialekt und ignorieren andere – aus dia- lektologischer Sicht weitaus typischere – Phänomene? Warum glauben so viele, dass Dialektgebrauch für „Bodenständig- keit“ und „Heimat“ steht, und was mei- nen sie damit eigentlich genau? Diese Fragen sind nicht nur politisch, wirtschaftlich und kulturell relevant, auch wird Menschen, die Dialekt sprechen, ein l l e u t k A e i m e d a k A r ü f r e g r e b n e l l I h a r a S : o t o F Warum glauben so viele, dass Dialektgebrauch für „Bodenstän- digkeit“ und „Heimat“ steht? deutlich stärkerer persönlicher Bezug zur Forschung ermöglicht, wenn ihre eige- nen Ansichten und Absichten ins Zent- rum der Betrachtung rücken. Dass jene Forschung ganz im Sinne der Third Mis- sion steht und durchaus förderungswür- dig ist, hat die Bayerische Akademie der Wissenschaften früh erkannt und dem Autor 2019 das Projekt „Regionale Spra- che und Identität in Altbayern“ mit einem Forschungsstipendium ermöglicht. Aus diesem Projekt stammen einige der nun vorgestellten Ergebnisse. Wer tvorstellungen zu Dialekten Dialekte werden sozial bewertet. Wie ist dies überhaupt möglich? Die Bewertung beruht auf gedanklichen Grundgerüsten, sogenannten „sprachlichen Ideologien“, A k a d e m i e A k t u e l l 23

2.2023 Fokus insgesamt in Bayerisch-Schwaben sel- tener eine wirtschaftliche Nutzung regionaler Dialektmerkmale. Enregis- terment wird offenbar eher über Soci- al Media betrieben, etwa über lokal- patriotische Facebook-Gruppen, wie „Augschburgerisch“ in der Gruppe „Augschburg“. Dies wertet – zumindest in beschränktem Maße – Dialekt- sprechen bzw. -schreiben auf. Praxisbezug Dieser kurze Einblick in die Forschung erlaubt einen interdisziplinären Ausblick: Eine direkte Anwendung der Ergebnisse drängt sich v. a. bei bildungspolitischer Brisanz auf, etwa in der dringend nötigen Umsetzung einer pluralistischen Sprach- förderung, die über oberflächliche, altba- ckene und didaktisch teils bedenkliche Darstellungen von Dialekt hinausgeht und sprachliche Vielfalt ernst nimmt. Der zunehmende Einsatz von Dialek- ten in der Wirtschaft bietet einen weite- ren Anknüpfungspunkt: Gemeinsam mit den Wirtschaftswissenschaften muss die- ser Dialektgebrauch (oder das, was Unter- nehmen dafür halten) auf seine Wirkung hin umfassend untersucht werden, damit klarer wird, ob und wie Dialekt kommo- difiziert werden sollte. All dies wirft schließlich die kulturpo- litische Frage auf, ob die fortschreiten- de Folklorisierung der Dialekte in baye- rischen Schulen und in der regionalen Wirtschaft wünschenswert ist – auch hierzu werden die innovativen soziolingu- istischen Zugänge ihren Beitrag leisten. Dr. Konstantin Niehaus ist Sprachwissenschaftler und seit 2023 Senior Scientist im Fachbe- reich Germanistik der Universität Salzburg . Seine Forschungsschwer- punkte sind u. a. Sprache und Identität , Sprachpolitik und Sprach - wandel. Von 2019 bis 2020 war er Forschungsstipendiat der Bayeri- schen Akademie der Wissenschaften mit dem Vorhaben „Regionale Sprache und Identität in Altbayern“. Dialekt als Ware: mundartsprachliche Werbung für ein Mineralwasser aus dem Naturpark Nagelfluhkette zwischen Allgäu und Bregenzerwald. Meinung, dass es zwischen Fichtelgebir- ge und Berchtesgaden ein halbwegs ein- heitliches „Allgemeinbairisch“ gäbe. In Franken werden Lenisierungen von Plosiven (keine Unterscheidung von „har- ten“ und „weichen“ b, g, d), aber auch die Abtönungspartikel fei (= aber, übrigens) als „Fränkisch“ enregistert. Etwa zeigt sich in einem Asterix-Mundart-Band auf Fränkisch fast auf jeder zweiten Seite ein fei, in der entsprechenden Version auf Bairisch sind es hingegen nur vier im gan- zen Band. Ähnlich nimmt sich die Präsen- tation des Wortes in populären Dialekt- führern für Fränkisch bzw. Bairisch aus. Das Register des Fränkischen wird vom wirtschaftlichen Zentrum Nürnberg geprägt: Nicht zuletzt stammen von dort viele regionale Produkte, die das Fränkische zur Ware zu machen (sog. Kommodifizierung von Sprache), z. B. T-Shirts oder Postkarten mit Dialektsprü- chen oder ähnliche Geschenkartikel. Hier taucht wiederum der Diphthong ou auf – diesmal aber als „typisch fränkisch“, obwohl er natürlich nicht in ganz Fran- ken gebräuchlich ist. In Franken stilisiert man sich gern als dezidiert unbayerisch, etwa mittels sprachlich-sozialer Ste- reotypen wie jenem, dass man in Fran- ken wortkarger als in Altbayern sei und mit trockenem statt feixendem Humor gesegnet. Der stereotype Sprecher ist ein Kleinbürger à la Erwin Pelzig, jedenfalls kein Landwirt. In Schwaben, zumindest in Augsburg und dessen südwestlichem Umland, präsentiert man sich in autobiogra- phischen Interviews stolz als „(auch) bayerisch“. Obwohl der Dialekt vor Ort meist als „Ostschwäbisch“ einzustufen ist, bezeichnen die Menschen ihn als bayerisch – Merkmale wie die s-Pala- talisierung werden als geringfügige Abweichung innerhalb eines „Bundes- landdialekts“ gedeutet. Im Allgäu ist zudem das separate Register „Allgäu- erisch“ bemerkenswert. Doch gibt es H b m G r e s s a w n e p l A r e u ä g l l A : o t o F A k a d e m i e A k t u e l l 25

2.2023 Fokus So klingt Bayern! S p i e l e r i s c h , z u g l e i c h a m b i t i o n i e r t : E i n n e u e s D i a l e k t - Q u i z m a c h t L u s t , i n d i e b a y e r i s c h e n D i a l e k t e h i n e i n z u h ö r e n . D i e B A d W w a r b e r a t e n d a n d e m P r o j e k t b e t e i l i g t . Vo n C h r i s t o p h L a n g O chkotzolschwoff – Oachkoatzo- alschwoaf – Eichhörnlewedel … Wie sagt man in Bayern? Solche Fragen kom- men einem in den Sinn, wenn man an ein Dialekt-Quiz Bayern denkt. Und in der Tat, wer bei Google nach „dialekt“, „quiz“ und „bayern“ sucht, stößt schnell auf Rätsel dieser Art. So taucht etwa ein Quiz mit der Frage auf: „Lecker – Die Johannisbee- re ist auch in Bayern beliebt. Dort heißt sie … a) Ribisl b) Radi c) Rana d) Raimilli“. Solche Rätsel sind banal. Sie dienen kaum dazu, sich eingehender mit den Dialekten Bayerns zu beschäftigen. Dass es anders geht, beweist das „Dialekt-Quiz Bayern“ des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen und für Heimat. Konzipiert und umgesetzt wurde das Projekt im Referat „Regionale Identität“ des Ministeriums. Dort hat man sich laut Homepage Gedan- ken gemacht über die „Merkmale, die das D I A L E K T - Q U I Z B AY E R N Wie klingt es in Bayerns Regi- onen? Von Aschaffenburg bis Mittenwald, von Ludwigs- stadt bis Oberstdorf – raten Sie mit beim Dialekt-Quiz Bayern und testen Sie Ihr Wissen in drei Schwierigkeits- stufen! Das Gewinnspiel läuft noch bis 31. März 2024. dialektquiz.de l l e u t k A e i m e d a k A r ü f r e g r e b n e l l I h a r a S : o t o F Profil einer Region bilden“ und zu denen wesentlich die Sprache zählt. Man merkt, dass der zuständige Mit- arbeiter Thomas Greiner seit den ersten Überlegungen im Herbst 2021 in engem Austausch mit Fachleuten aus der Sprach- wissenschaft stand. So verzichtet das Quiz vollkommen auf geschriebene Dia- lektwörter und vermeidet somit eines der größten Probleme vieler Dialekträt- sel. Gesucht wird auch nicht nach spezifi- schen Ausdrücken. Aufgabe ist es, gespro- chene oder gesungene Hörbeispiele auf einer Karte zuzuordnen. Das ist zunächst recht einfach, wenn es darum geht, die Audios den Dialekträumen Fränkisch, Schwäbisch-Alemannisch bzw. Bairisch zuzuweisen. In Level 2 wird es schon schwerer, hier ist aus neun Dialektunter- räumen auszuwählen. Vor echte Heraus- forderungen stellt einen die dritte und letzte Schwierigkeitsstufe, bei der man das Sprachbeispiel einem von sechs vor- geschlagenen Orten zuordnen muss. Das Quiz weckt den Ehrgeiz. Wer – wie der Quiztester – aus dem ostschwäbisch- mittelbayerischen Grenzgebiet stammt, für den ist der Unterschied zwischen Unterostfränkisch und Oberostfränkisch nicht ganz einfach zu hören. Wie gut, dass die Internetseite auch kurze und leicht verständliche Hinweise sowie Hörbei- spiele zu den Dialektunterräumen bietet. Beeindruckend sind auch Auswahl und Anzahl der Hörbeispiele. Mehr als 5.000 Audios sorgen dafür, dass man schon sehr lange spielen muss, um ein bereits gehör- tes Beispiel zum zweiten Mal zu erwi- schen. Das gilt sogar für das so rare und nur in wenigen Orten des Landkreises Kronach gesprochene Thüringisch! Kurzweilig ist die Zusammenstellung der Aufnahmen. Knapp die Hälfte stammt von mehr als 200 Kabarettisten, Gesangsgruppen und Bands. Leider sind dabei nicht alle Beispiele gut verständlich – nicht jede Musikrichtung ist geeignet, Texte sauber artikuliert zu transportieren. Hier sollten sich die Spielenden im Zwei- felsfall bewusst machen, dass man auch mit ein paar falschen Ergebnissen genug Punkte sammeln kann, um am Gewinn- spiel teilzunehmen. Die andere Hälfte der Aufnahmen bilden aktuelle und histori- sche Sprachbeispiele. Während die aktu- ellen Audios Beleg für die Lebendigkeit des Dialekts sind, sind die historischen Aufnahmen der 1950er und 1960er Jahre nicht nur von sprachlichem Reiz, sondern auch von kulturgeschichtlichem Mehr- wert. Sie stammen aus dem Archiv für Gesprochenes Deutsch des Leibniz-Insti- tuts für Deutsche Sprache in Mannheim („Zwirner-Korpus“). Eine sprechende Sprachkarte, die mit den 5.000 Aufnahmen hinterlegt ist, so- wie eine Auflistung der über 200 Gruppen und Einzelkünstler runden die übrigens auch optisch ansprechende Internetsei- te ab. Kurzum: Ein kurzweiliges Quiz, das einerseits unterhält und andererseits Lust darauf macht, sich tiefer in die in Bayern gesprochenen Dialekte hineinzuhören. Christoph Lang M. A . ist seit 2021 Heimatpfleger für den Bezirk Schwaben. Für „ Akademie Aktuell“ hat er das Dialekt-Quiz Bayern getestet , das im Frühjahr 2023 online ging . A k a d e m i e A k t u e l l 27

2.2023 Fokus S C H W Ä B I S C H „Ratzagrend“ [Ratzengrind] Kopf einer Ratte, unschöne Kurzhaarfrisur l l e u t k A e i m e d a k A r ü f x x x x x x : s o t o F A k a d e m i e A k t u e l l 29

2.2023 Fokus Wer dafür sensibilisiert ist, dem fallen ständig sprach- liche Diskrimi- nierungen auf. die Leute dahier ... hängen überall ein Lieblings-E an, sodaß ihre Sprache ... ein förmliches Mäh, Mäh von Schafen wird.“ Was tun gegen sprachliche Diskriminierung? Eine Diskussion über Sprachnormen und ihre Entstehung sowie der Blick in Länder wie die Schweiz oder Norwegen könnte eine Sensibilisierung und in der Konse- quenz die Tabuisierung von sprachlicher Diskriminierung bewirken. Wenn die sprachhistorischen Vorgänge, wie es zu den unterschiedlichen Varietäten gekom- men ist, verstanden würden, wenn durch- schaut würde, dass unsere Sprachnormen keine ehernen Gesetze sind, könnte dem Prestigegefälle zwischen den Varianten entgegengewirkt werden. Es könnte sich die Einsicht durchsetzen, dass alle Varie- täten gleichen Wert haben, dass es unter Sprachen kein „Richtiger“ oder „Falscher“ gibt und dass die Sprecher einer Varietät nicht „bessere“ oder „minderwertigere“ Menschen als andere sind. Dr. Edith Burkhar t-Funk ist Germanistin und war bis 2022 Redaktorin am Bayerischen Wör- terbuch und am Dialektologischen Informationssystem von Bayerisch - Schwaben der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Junge und Knabe lässt der Duden uneingeschränkt gelten, obwohl Letzteres nur in einem ganz kleinen Gebiet das normale Alltagswort ist. Bub wird durch das Etikett „landschaftlich“ als weniger hochdeutsch gehandelt, trotz seiner starken Verbreitung. es nicht, da die Deutschschweizerinnen und -schweizer den Umgang mit unter- schiedlichen Dialekten gewöhnt sind. Es ist selbstverständlich, dass Lehrkräfte mit den Kindern Dialekt sprechen. Die schweizerdeutsche Variante des Hoch- deutschen, das Schwyzerdütsch, wird den Kindern zwar vermittelt, aber nur mit Ausländern und in bestimmten überregi- onalen Medienbeiträgen praktiziert. In Norwegen ist selbst in der Schrift- lichkeit nicht eine Einheitsnorm, sondern Pluralismus das Ideal. Deshalb gibt es dort unterschiedliche regionale Schreib- standards. Beim mündlichen Sprachge- brauch wird streng auf die Bewahrung der Dialekte geachtet. In den Schulen wird kein einheitlicher Standard unterrichtet. Norwegen hat seit 1878 ein Gesetz, das Lehrerinnen und Lehrern vorschreibt, die Dialekte der Kinder zu fördern. Der mündliche Gebrauch einer Standard- sprache darf nicht eingefordert werden. Neben Normenkonformität wirkt sich auch das Prestige einer Sprachform auf ihr Überleben aus: Deshalb geben süd- deutsche Sprecherinnen und Sprecher nicht nur ihren Dialekt, sondern auch ihr südliches Hochdeutsch zugunsten eines nördlichen auf. Prestige hat keine sprachlichen, sondern soziale, politische, ökonomische oder normativ-kulturelle Ursachen. Es ändert sich auch mit diesen äußeren Faktoren. So wird Augsburg in einem Text von 1573 als „Sitz der zierlichs- ten deutschen Sprache“ beurteilt. Auch das Sächsische hatte z. B. zur Zeit Luthers ein höheres Ansehen. Erst Jahrhunderte später, 1826, schrieb Franz Grillparzer über die Sprache der Dresdner in sein Tage- buch: „die Sprache ... ist unmännlich, geckenhaft, wie von und für Kopflose ... A k a d e m i e A k t u e l l 31

2.2023 Fokus Digitale Dialektologie – Chancen und Herausforderungen A l l e b a y e r i s c h e n D i a l e k t e u n t e r e i n e m D a c h : „ B a y e r n s D i a l e k t e O n l i n e “ r i c h t e t s i c h g e z i e l t a u c h a n I n t e r e s s i e r t e a u ß e r h a l b d e r W i s s e n s c h a f t . E i n n u t z e r o r i e n t i e r t e s D e s i g n t r ä g t m a ß g e b l i c h z u m g r o ß e n E r f o l g d e s O n l i n e a n g e b o t s b e i . Vo n M a n u e l R a a f D ie Onlineplattform „Bayerns Dia- lekte Online“ (BDO) befindet sich zwar noch im Aufbau, doch alle bisher verfassten Inhalte stehen Interessierten unter bdo.bayern.de bereits frei zur Ver- fügung. In diesem Sprachinformations- system sind die drei an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften angesie- delten Dialektwörterbücher seit Juli 2021 auch digital unter einem Dach vereint: Das „Bayerische Wörterbuch“, das „Dia- lektologische Informationssystem von l l e u t k A e i m e d a k A r ü f r e g r e b n e l l I h a r a S : o t o F B AY E R N S D I A L E K T E O N L I N E Sie interessieren sich für die Dialekte Bayerns, die Her- kunft, Verbreitung und Bedeu- tung einzelner Begriffe? Recherchieren Sie in den drei Wörterbüchern der BAdW: bdo.badw.de Bayerisch-Schwaben“ sowie das „Fränki- sche Wörterbuch“ speisen kontinuierlich ihr neu erarbeitetes Material in BDO ein. Die Homogenisierung der bis dato digital eigenständigen Projekte stellte uns zwar vor Herausforderungen, ermöglichte uns jedoch zeitgleich auch, die Chancen des digitalen Mediums zu nutzen. Gutes Webdesign ist nicht nur für lexikographische Onlineauftritte wichtig, doch gerade auch für diese von zuneh- mend hoher Relevanz. Denn neben der A k a d e m i e A k t u e l l 33

2.2023 Fokus Die Online- Variante stellt sich sowohl für Laiinnen und Laien als auch für Fachleute aus aus der Wissenschaft übersicht- licher und verständlicher dar. dieser Art innerhalb der elektronischen Lexikographie aufzeigen, mit welcher Methodik entsprechende Nachforschun- gen die qualitativ besseren Details liefern. Sie sollte damit einen wichtigen Beitrag zur Benutzungsforschung digitaler Wör- terbücher liefern. Im online durchgeführten Teil der Studie wurden neben standardisierten Fragebögen zur Benutzerfreundlichkeit und -zufriedenheit eigene Fragen u. a. zu gewünschten künftigen Funktionen gestellt. Außerdem sollte ein gedruck- ter Artikel des Bayerischen Wörterbuchs mit seiner Online-Präsentation verglichen und bewertet werden. Zusätzlich wurde BDO von einer Gruppe ausgewählter Nut- zerinnen und Nutzer live getestet. Die Annahme war, dass diese Beobachtung und das daran anschließende Interview detailreichere Informationen liefern als Dutzende oder gar Hunderte ausgefüll- ter Fragebögen. Die Auswahl der acht Probandinnen und Probanden erfolgte anhand einiger Eigenschaften wie Alter, Internet- oder Dialektkenntnisse, Bil- dungsstand sowie fachlichem vs. nicht- fachlichem Nutzungshintergrund. Das Ergebnis der Online-Umfrage ist in allen Kategorien eindeutig positiv (s. Grafik). Auch die acht Interviews stim- men hiermit überein. Somit ist als erstes Fazit festzustellen, dass das nutzerori- entierte Design als zielführend angese- hen werden kann und „Bayerns Dialek- te Online“ eine gute Benutzerzufrieden- heit und Nutzungserfahrung bietet. Bei Ansicht der jeweiligen Kategorien stellt sich jedoch die Frage, warum die „Neu- artigkeit“ mit 0,85 oder die „Visuelle Ästhetik“ mit 1,02 weniger gut bewertet wurden. Deren Beantwortung ist jedoch nicht über den Fragebogen möglich, da er weiterführende, individuelle Fragen nicht klären kann. Aus den Interviews ging hierzu auf Nachfrage hin einstim- mig hervor, dass die als „schlicht“ und „wenig originell“ bezeichnete Optik von BDO eine untergeordnete Rolle spiele. Viel wichtiger seien die Verständlichkeit des Suchformulars und der -ergebnisse sowie interessante Artikelinhalte. Wenn man sich für Dialekte in Bayern interes- siere, sei das schlichtere Layout irrelevant, sofern die anderen Kategorien erfüllt sei- en. Als zweites Fazit lässt sich daher fest- stellen, dass eine direkte und dynamische A k a d e m i e A k t u e l l W d A B : k i f a r G Erhebung mithilfe weniger Nutzungs- tests ein qualitativ deutlich höherwer- tigeres Ergebnis liefert als eine indirekte und primär statische Befragung mittels (Online-)Fragebögen. Weder in den Freitextfeldern der Online-Erhebung noch im Anwendungs- test wurde auf schwerwiegende Prob- leme hingewiesen. Die wenigen Opti- mierungsbedarfe, die aus der Studie insgesamt hervorgingen, sind eine lai- entauglichere Beschriftung mancher In- halte (z. B. Stichwort vs. Lemma, Worther- kunft vs. Etymologie), eine klarere farbli- che Hervorhebung der Hinweistexte, ein deutlicheres Symbol für ausklappbare Bereiche und eine höhere Suchgeschwin- digkeit. Aus den eigenen, projektspezifi- schen Fragen ging in Bezug auf den Ver- gleich des gedruckten Artikels mit seiner Online-Variante klar hervor, dass die Letz- tere sich sowohl für Laiinnen und Laien als auch für Fachleute aus der Wissen- schaft übersichtlicher und verständlicher darstellt. Bezüglich weiterer Chancen der digitalen Dialektologie werden im Verlauf des Jahres 2023 multimediale Inhalte in BDO einfließen, da dies einer der promi- nentesten Wünsche der Nutzerinnen und Nutzer darstellte. Zusätzlich zur beschriebenen Studie werden kontinuierlich und datenschutz- konform Besucherstatistiken erfasst, die für das Jahr 2022 knapp 105.000 Such- anfragen belegen. Damit liegt „Bayerns Dialekte Online“ innerhalb aller Web- seiten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in den Top 5. Auch diese hohe Zahl deutet – wenn auch nur indi- rekt – auf eine gute Benutzerfreundlich- keit und Nutzerzufriedenheit hin und bestätigt somit ebenfalls den Erfolg des Konzepts. Manuel Raaf ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Referat Digital Humanities – Forschung und Entwicklung der BAdW und dor t zuständig für die Projektleitung sowie technische Realisierung von „Bayerns Dialekte Online“ (B DO). 35

2.2023 Auf den Punkt Wissenschaftskommunikation: Verstehen und Vertrauen E i n K o m m e n t a r v o n R a i n e r B r o m m e I l l u s t r a t i o n M a r t i n F e n g e l Die Kommunikation an die und mit der Öffentlichkeit über wissen- schaftliches Wissen und Wissen- schaft selbst ist heute für Universitäten und andere Forschungseinrichtungen eine Verpflichtung. Welche Kenntnisse und Fähigkeiten benötigen Forschen- de für ein Engagement in der Wissen- schaftskommunikation? Die Antwort darauf setzt Klarheit über die Ziele vor- aus: Wissenschaftskommunikation sollte erstens das öffentliche Verständnis von wissenschaftlichem Wissen fördern; und sie sollte zweitens Bürgerinnen und Bürger bei informierten Vertrauensurteilen unterstützen (Wem kann man vertrauen? Was kann man für wahr halten?). Für die Förderung des Verständnisses ist – im weitesten Sinne – didaktisches Können hilfreich, z. B. eine klare Sprache und eine durchdachte Mediennutzung. Wichtig ist auch ein empirisch fundiertes Verständnis dessen, was Bürgerinnen und Bürger zu den The- men der Wissenschaftskommunikation bereits wissen und was sie daran interessiert. Insbesondere aber wenn Forschende auch als Berater in Politik und Gesellschaft gefragt sind oder wenn Wissenschaft in Konkurrenz zu pseudowissenschaftlichen Stimmen steht, kann man sich nicht auf ein verständliches Angebot von Fachinfor- mationen beschränken. Für die Unterstützung informierten Vertrauens ist es dann umso wichtiger, über Methoden der Sicherung der Qualität des wissenschaftlichen Wissens zu sprechen. Wissenschaftskommunikation erfordert also eine Reflexion über die epistemischen Grundlagen des eigenen Fachs: Warum eigentlich ist das eigene wissenschaftliche Wissen, zu dem man mit der Öffentlichkeit ins Gespräch kommen will, vertrauenswürdig? Die Forschung zum öffentlichen Vertrauen in Wissenschaft zeigt, dass Bürgerinnen und Bürger über gewissenhafte Arbeit hinaus auch eine Orientierung am Gemeinwohl sowie eine Unabhängigkeit von Interessen Dritter erwarten. Der Umgang mit diesen (manchmal widersprüchlichen) Erwartungen erfordert auch die Kommunikation über die Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlichen Wissens bei der Beantwortung von gesellschaftlich-politischen Fragen. Das wiederum setzt aber voraus, dass Forschende selbst über diese Zusammenhänge ihrer Themen reflektieren. Wissenschaftskommunikation erfordert also immer auch Wissenschaftsreflexion, und zwar in zweifacher Hinsicht: eine wissenschaftsphilosophisch fundierte Betrach- tung und eine Reflexion über die für das jeweilige Themenfeld und Fach relevanten gesellschaftlichen Problemstellungen, Akteure und Debatten. Prof. Dr. Rainer Bromme ist Senior-Professor für Pädagogische Psychologie an der Universität Münster und Mitglied der BAdW. l l e u t k A e i m e d a k A r ü f r e x w x x e x r G x x . P : s : o o t t o o F F A k a d e m i e A k t u e l l 37

2.2023 Lesenswert In unserer Buch -Kolumne fragen wir Angehörige der Akademie nach ihrer aktuellen Lektüre. „Ich nehme nie nur ein Buch mit“ Der Mediävist Alexander Rudolph über verschiedene Facetten von Wahrheit Welches Buch würden Sie Ihren Studentinnen und Studenten empfehlen? Von meinen Studierenden höre ich immer wieder, dass sie nur noch die Texte für ihre Seminare und Forschungsliteratur lesen. Ich würde allen Studierenden und Lehrenden in der Literatur- wissenschaft empfehlen, unbedingt weiterhin andere Literatur zu lesen und auch Literaturveranstaltungen zu besuchen. Das erweitert unseren Horizont und erinnert uns daran, warum wir einmal begonnen haben, uns forschend mit Literatur zu beschäf- tigen. Besonders anregend finde ich zurzeit beispielsweise die Reihe „Kontinentaldrift“: Dort ist jüngst zur Leipziger Buchmesse der Band „Das Arabische Europa“ erschienen, eine faszinierende Zusammenstellung arabischsprachiger Autorinnen und Auto- ren, die in Europa leben und hier teils erstmals ins Deutsche übersetzt wurden. Kaufen oder leihen? Wenn es das Budget hergibt: kaufen. Das unterstützt die Verlage und alle, die an der Entstehung von Büchern beteiligt sind, und sorgt dafür, dass es weiterhin Bücher gibt. Fra g e n : r z Herr Rudolph, was lesen Sie gerade? Mehrere Bücher gleichzeitig. Ich nehme nie nur ein Buch mit, sondern mindestens drei. Dann kann ich je nach Stimmung aus- wählen und beim Lesen wechseln zwischen unterschiedlichen Themen, Schreibweisen und Textsorten. Ein Buch, das ich im Moment oft dabeihabe, ist der Gedichtband „Musik für die Toten und Auferstandenen“ von Valzhyna Mort. Was gefällt Ihnen an diesem Buch? Ich scheue mich etwas vor dem Label „Weltliteratur“, aber ich würde sagen, Valzhyna Mort, die in Minsk geboren ist und in den USA lebt, schreibt Weltliteratur in einem spezifischen Sinne: Sie verhandelt konkret ihre Herkunft und die Geschichte von Bela- rus – sie wird damit, wie es treffend im Beschreibungstext zum Buch heißt, „nicht fertig“. Gleichzeitig ist in diesen Texten vieles so existentiell, so universell, dass es einen unmittelbar angeht. „Nun also, / wo stamme ich her? / Nachkriegstadt, Kasernen –“, schreibt sie in einem Gedicht, und dann: „Ein Gesicht das man vom Bügel riss. / Abwesenheit als inneres Organ.“ Warum lesen Sie? Der polnische Dichter Adam Zagajewski hat über die Texte von Valzhyna Mort gesagt, sie erinnern uns „auf wundersame Weise daran, dass Wörter viele Dinge tun können – sie können tanzen, sie können sich in Ironie ergehen, sie können die Liebe preisen, aber sie können auch die Wahrheit sagen“. Ich verstehe das auch so, dass es Facetten von Wahrheit gibt, die sich nur auf literari- sche, poetische Weise ausdrücken lassen. Und ich glaube, das hat viel damit zu tun, warum ich lese. Wie begeistern Sie Kinder fürs Lesen? Ich habe selbst keine Kinder, aber ich durfte schon literarische Workshops in Schulen geben. Dort habe ich gemerkt, dass Schul- kinder häufig Vorbehalte gegenüber Literatur entwickeln, wenn sie ihnen hauptsächlich als etwas vermittelt wird, das man sche- matisch analysieren, wovor man großen Respekt haben muss. Ich denke, dass Literatur im Schulunterricht – wie Bildende Kunst oder Musik – etwas sein sollte, das man selbst ausprobieren und spielerisch kennenlernen darf. Dann wächst auch die Lust, anderes zu lesen. Wie produktiv das kreative Schreiben von und mit Kindern sein kann, zeigen zum Beispiel die „POEDU“-Antho- logien: Poesie von Kindern für Kinder. A k a d e m i e A k t u e l l F o t o R e g i n a R e c h t ― I l l u s t r a t i o n K a t i S z i l á g y i 39

2.2023 Kurz vorgestellt ihre Forschung dem Wohle der Mensch- heit und nicht deren Vernichtung dient. Ich wollte schon immer einmal … … im Himalaya wandern gehen. Welche Begabung hätten Sie gerne? Latein nicht nur zu lesen, sondern auch zu sprechen und zu schreiben. Was macht Ihr Leben reicher? Gartenarbeit. Außerdem Gesellschafts- tanz, denn beim Wiener Walzer kommt man dem Fliegen manchmal nah. Prof. Dr. Susanne Lepsius S u s a n n e L e p s i u s i s t P r o f e s - s o r i n f ü r G e l e h r t e s R e c h t , D e u t s c h e u n d E u r o p ä i s c h e R e c h t s g e s c h i c h t e u n d B ü r - g e r l i c h e s R e c h t a n d e r L M U M ü n c h e n . S i e i s t M i t g l i e d d e r Ve r e i n i g u n g f ü r Ve r f a s s u n g s - g e s c h i c h t e u n d o r d e n t l i c h e s M i t g l i e d d e r B A d W. Wozu forschen Sie? Mein Forschungsgebiet ist die Geschich- te des Rechts (Rechtswissenschaft und Rechtskultur) seit dem Hochmittelalter bis zum 20. Jahrhundert. Augenblicklich interessieren mich besonders Frühfor- men justizieller Kontrolle von Herrschaft in der Stadtrepublik Lucca im 14. Jahrhun- dert, aber auch theoretische Überlegun- gen von Juristen zur rechtlichen Einhe- gung von Macht und zur Herrschaft in der Stadt. Welche Frage wollen Sie mit Ihrer For- schung beantworten? Warum sich (nur) in der sog. westlichen Welt der Rechtsstaat als tragendes Prin- zip der Gesellschaft entwickelt hat, aber auch, warum und wodurch dieses Prinzip in verschiedenen historischen Konstellati- onen gefährdet wurde und wird. Was treibt Sie an? Neugier, Beharrlichkeit, Besser-wissen- Wollen. Mit welcher (auch historischen) Person würden Sie gerne diskutieren? Bartolus von Sassoferrato († um 1356), Hermann Kantorowicz († 1940). Ich würde gerne … … fliegen und singen können. Dr. Jérôme Schäfer, Ph. D. J é r ô m e S c h ä f e r i s t A s s i s t a n t P r o f e s s o r a m L e h r s t u h l f ü r E m p i r i s c h e P o l i t i k f o r s c h u n g u n d P o l i c y A n a l y s i s d e r L M U M ü n c h e n . E r i s t M i t g l i e d i m J u n g e n K o l l e g d e r B A d W. Wozu forschen Sie? Meine Forschung beschäftigt sich allge- mein damit, wie sich verschiedene Indivi- duen (z. B. je nach Alter, Bildung, Einkom- men oder Gender) in ihrem politischen Verhalten voneinander unterscheiden. Derzeit untersuche ich die Ursachen für die sinkende Wahlbeteiligung in westli- chen Demokratien. In meiner Arbeit ana- lysiere ich die mögliche Rolle von sozia- len Ungleichheiten, Politikverdrossenheit und Generationenwechsel. Was treibt Sie an? Die Möglichkeit, evidenzbasierte Erkennt- nisse zu wichtigen Fragen unserer Gesell- schaft zu gewinnen. Haben Sie ein (historisches) Vorbild in der Wissenschaft? Den amerikanischen Politikwissenschaft- ler Robert Putnam, der bei der Anwen- dung von neuen quantitativen Metho- den in meinem Forschungsfeld grundle- gende Arbeit geleistet hat, vor allem aber wichtige Zusammenhänge besonders gut erkennen und kommunizieren konnte. An anderen bewundere ich … … die Leidenschaft und die Neugier, sich auf neue Projekte einzulassen. Fragen: rz 4141 Dr. Franziska Traube F r a n z i s k a Tr a u b e i s t L i e b i g - S t i p e n d i a t i n u n d f o r s c h t a n d e r T U M S c h o o l o f N a t u r a l S c i - e n c e s i m Fa c h C h e m i e u n d a m I n s t i t u t f ü r C h e m i s c h e E p i g e - n e t i k d e r L M U M ü n c h e n . S i e i s t M i t g l i e d i m J u n g e n K o l l e g d e r B A d W. Was ist Ihr Forschungsschwerpunkt? Da alle Zellen eines Organismus das glei- che Erbgut haben, gibt es eine Regulati- onsebene, das Epigenom, welche dafür sorgt, dass Gene gezielt an- und aus- geschaltet werden. In Krebszellen ist das Epigenom stark verändert, sodass wachstumsfördernde Gene dauerhaft aktiviert, während wachstumskontrollie- rende Gene ausgeschaltet sind. In unserer Forschung versuchen wir zu verstehen, wie situationsabhängig bestimmte epi- genetische Muster platziert werden, wie es dann zur Entstehung des Krebsepige- noms kommt und wie diese Veränderun- gen rückgängig gemacht werden können. Warum genau dieses Thema? Mich hat es schon als Kind fasziniert, dass alle unsere Zellen das gleiche Erbgut tra- gen und trotzdem so unterschiedlich in Aussehen und Funktion sind. Mit unserer Forschung wollen wir einen Beitrag dazu leisten, die zugrundeliegenden Prozesse besser erklären und in der Folge gezielt beeinflussen zu können. So ergibt sich aus den Ergebnissen ein direkter thera- peutischer Nutzen. Mit welcher (auch historischen) Person würden Sie gerne diskutieren? Ich würde gerne mit Simone de Beauvoir über Feminismus und Machtstrukturen diskutieren. Haben Sie ein (historisches) Vorbild in der Wissenschaft? Mein historisches Vorbild ist Lise Meitner, die nicht nur eine herausragende Wissen- schaftlerin war, sondern auch niemals aufgab und sich dafür einsetzte, dass A k a d e m i e A k t u e l l ) 2 ( t a v i r p ; M U T / t t o g r e d d e H s a e r d n A : s o t o F

2.2023 Ökologie Forschung L e b e n s r a u m Ein degradiertes Hochmoor bei Vechta mit anlaufender Renaturierung. Vo n J o h a n n e s K o l l m a n n , J u l i a P o n g r a t z u n d I n g r i d K ö g e l - K n a b n e r A k a d e m i e A k t u e l l 43

I n E u r o p a s i n d 6 0 P r o - z e n t d e r M o o r e v e r - s c h w u n d e n , i n D e u t s c h l a n d s i n d 9 8 P r o z e n t d e r o r g a n i - s c h e n B ö d e n e n t w ä s s e r t . Das Hochmoor Kendlmühlfilzen im Chiemgau ist noch teilweise intakt. Hier wächst unter anderem der Rundblättrige Sonnentau. n n a m l l o K . J : o t o F 45

2.2023 Ökologie Forschung R U N D G E S P R ÄC H F O R U M Ö KO LO G I E Moore, ihre Bedeutung für Klimaschutz und Artenvielfalt sowie Möglichkeiten der Rena- turierung standen im Mittelpunkt eines Rund- gesprächs des Forums Ökologie im April 2023. Der dazugehörige Tagungsband „Moore: Ökosystemfunktionen, Biodiversität und Rena- turierung“ wird voraus- sichtlich Anfang des Jahres 2024 erscheinen. Weitere Veröffent- lichungen der Reihe „Rundgespräche Forum Ökologie“ unter oekologie.badw.de/ publikationen Das Ökosystem Moor sowie seine typischen Artengemeinschaften stehen zwischen den Einflüssen der menschlichen Landnutzung (Entwässerung und Renaturierung) sowie des Klimas. Die Pfeildicke zeigt die Wirksamkeit des Zusammenhangs an. A) Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen dem Klima und der weltweiten Verbreitung der Moore; im Torf werden mehr Treibhausgase gespei- chert als emittiert, sodass ein kühlender Effekt auf das Klima entsteht. B) Durch eine nicht nach- haltige Landnutzung und Entwässerung der Moore verändert sich der Lebensraum, und viele Arten gehen verloren, zudem werden aus entwässerten Mooren verstärkt Treibhausgase freigesetzt. C) Ein verändertes Klima hat Folgen für den Zustand der Moore und die Verbreitung ihrer Arten, die kaum Ausweichmöglichkeiten haben. D) Durch gezielte Renaturierung können Moore und ihre Arten gefördert und Treibhausgasemissionen gesenkt werden. Während Landnutzungsänderung die deutlichste Gefahr für Moore darstellt, ist der Klimawandel weniger offen- sichtlich, aber vermutlich ebenso schädlich. Studien gehen davon aus, dass ein wärmeres Klima zunächst zu höheren Verdunstungsraten und somit zu sinkenden Wasserspiegeln und zunehmender Zersetzung führt. Es entsteht eine Rück- kopplung zwischen Mooren und dem Klima, da bei niedrigen Wasserspiegeln wiederum die Treibhausgasemissionen stei- gen. Genaue Vorhersagen zur Auswirkung des Klimawandels auf Moore und ihre Arten sind jedoch noch unsicher, da bis- her nicht alle Rückkopplungen verstanden sind. Renaturierung von Mooren kann ihrer Degradation ent- gegenwirken. Ziel ist die Wiederherstellung eines selbster- haltenden Zustands mit Torfakkumulation. Im Zentrum ste- hen die Anhebung und Stabilisierung des Wasserstandes nahe an der Mooroberfläche, sodass aerobe Zersetzungs- prozesse vermindert werden, das System zu einer Senke für Treibhausgase wird (wenngleich Methanemissionen steigen können) und die Lebensraumeignung für moor- typische Arten verbessert wird. Da die Regeneration eines torfakkumulierenden Systems sehr langsam ist, ist der erste Schritt, eine weitere Degradation zu stoppen. In der Regel kann Wiedervernässung gleichzeitig Ziele des Arten- wie auch des Klimaschutzes erfüllen. Wenn aufgrund irreversi- bler Degradation eine ganzheitliche Regeneration im Sinne eines historischen oder natürlichen Systems nicht möglich ist, können Teilziele formuliert werden, wie beispielsweise die Förderung einzelner Arten oder die Reduzierung von Treibhausgasemissionen. Die konkreten Renaturierungs- maßnahmen sind abhängig von diesen Zielen, den spezifi- schen lokalen Gegebenheiten, dem Degradationsgrad und insbesondere auch vom Moortyp. Ist eine Renaturierung auf- grund von Nutzungskonflikten nicht möglich, können einige Ziele des Arten- und Klimaschutzes auch durch Wiederver- nässung mit Paludikultur – also an Moore angepasste Land- und Forstwirtschaft – erzielt werden. Prof. Dr. Johannes Kollmann ist Professor für Renaturierungsökologie an der TU München und Mitglied des BAdW-Forums Ökologie . Prof. Dr. Julia Pongratz ist Professorin für Physische Geographie und Landnutzungssysteme an der LMU München und Mitglied des BAdW-Forums Ökologie . Prof. Dr. Ingrid Kögel-Knabner ist Inhaberin des Lehrstuhls für Bodenkunde an der TU München, ordentliches Mitglied der BAdW und Mitglied ihres Forums Ökologie . A k a d e m i e A k t u e l l 47

2.2023 Geschichte Forschung Landshuts schöne Männer D e r j ü n g s t e r s c h i e n e n e 2 0 . B a n d d e r R e i h e „ D i e D e u t s c h e n I n s c h r i f t e n “ w i d m e t s i c h d e r S t a d t L a n d s h u t , d i e m i t a u f w e n d i g e n f i g ü r l i c h e n D a r s t e l l u n g e n m ä n n l i c h e r B ü r g e r a u f f ä l l t . Prunkvolles Grabdenkmal des herzoglichen Kanzlers Wolfgang Viebeck in St. Martin. eder Inschriftenband hat seine Besonderheit – und meist nicht nur eine. Im Band über die Stadt Landshut, dem nun schon zwölften, an dem die Autorin irgendwie beteiligt ist, ist es – neben inschriftenpaläographischen Besonderheiten und der Ausstattung der Stadtresidenz – die ungewöhnlich große Zahl von Denkmälern für männliche Vertreter von Bürgerschaft und herzoglichem Beamtentum. Auffällig ist, dass die figürlichen Darstellungen auf höchstem Niveau und sehr detailverliebt gearbeitet sind. Es mag vielleicht dem rein weiblichen Bearbeiterinnen-Team geschuldet sein, dass sie uns so sehr ins Auge gefallen sind: Lands- huts schöne Männer. Am Beginn der Reihe steht das Denkmal für den Juris- ten Martin Seiz genannt Mayr (DI 109 [Stadt Landshut] Nr. 112), ursprünglich in der Frauenkapelle, heute in St. Martin. Er war unter anderem für den Kaiser, aber auch für die reichen Herzöge als Rechtsberater tätig. Sein aus der Münchner Haldner Werkstätte – damals eine ers- te Adresse für Grabdenkmäler – stammendes Denkmal zeigt ihn uns in Ganzfigur, leicht nach links gewandt, ein A k a d e m i e A k t u e l l 49 Vo n C h r i s t i n e S t e i n i n g e r 2 2 0 2 , t u h s d n a L t d a t S r e d n e t f i r h c s n I e i D : s o t o F e l l A

2.2023 Geschichte Forschung N E U E R S C H E I N U N G Die Inschriften der Stadt Landshut. Gesammelt und bearbeitet von Ramona Baltolu, Mirjam Goeth, Tanja Kohwagner-Nikolai und Christine Steininger (Die Deutschen Inschriften 109), Wiesbaden 2022. Weitere Informationen zum Projekt unter inschriften.net den schönen Männern. St. Jodok bietet uns hier zwei Denkmäler mit Herren, die als Halbfigur in einer Nische über ihrer Grab- inschrift dargestellt sind. Michael Krätzl, Bürger und Gastgeb zu Landshut (DI 109 [Stadt Landshut] Nr. 487), fällt besonders durch seinen prachtvollen Bart ins Auge. Sein Mantel hat einen breiten Pelzkragen, ein kleines Büchlein soll ihn als Beter cha- rakterisieren. Ebenfalls als Beter, jedoch mit gefalteten Händen und Rosenkranz, aber wieder mit bis ins Detail ausgeführ- ter Haar- und Barttracht sowie einem Wams mit auffällig gemusterten Man- schetten, Mantel und Pluderhose, zeigt sich 1644 der Bürger und Handelsmann Johann Freinhueber (DI 109 [Stadt Landshut] Nr. 633). Lands- hut hatte gerade Verwüstungen und Plünderungen im Drei- ßigjährigen Krieg überstanden, dennoch hatte Freinhueber die Mittel, sich ein solch aufwendiges Denkmal setzen zu lassen. Viel weiter trieb die Selbstdarstellung der Landshuter Bürgerssohn Georg Altdorfer. Seine Karriere führte ihn bis Der Bürger und Handelsmann Johann Freinhueber mit detaillierter Bart- und Haarpracht in St. Jodok. auf den Bischofssitz von Chiemsee und machte ihn so zu einem der mächtigs- ten Kirchenmänner im Herzen Europas. P r u n k v o l l e G r a b k a p e l l e Er ließ sich nicht nur ein Grabdenkmal von dem Augsburger Meister Johann Peurlin setzen (DI 109 [Stadt Lands- hut] Nr. 155), sondern gestaltete an der Westseite der Martinskirche eine ganze Doppelkapelle als Grabkapelle für sich und seine Familie. Erhalten hat sich ein Schlusssteinprogramm, das das persönli- che Wappen des Bischofs, seines Bistums und seiner Vorfahren zeigt (DI 109 [Stadt Landshut] Nr. 129–130). Im Obergeschoss der Doppelkapelle, dem intimeren Raum, ist ein ausführlicheres heraldisches Programm geboten als im öffentlicheren unteren Raum. Vom Wandgrabmal hat sich nur der zentrale Bildteil mit einer Darstellung des knienden Bischofs im Gebet erhalten, begleitet von einem Diakon, in einem Studierzimmer, ähn- lich dem häufig für den Hl. Hieronymus gewählten. Obwohl der Bischof also nicht in einem Kirchenraum dargestellt ist, trägt er die Pontifikalien. Vermutlich sollte das Denkmal den Bischof als dem Altar der Kapelle zugewandten Beter zei- gen. Interessant ist besonders der Gewandsaum des Pluviales mit der Künstlersignatur des IOANNES PEVRLIN DE AVGVSTE. Peurlin setzte nicht einfach als Steinmetz seinen Namen auf die Platte. Er imitierte bei den Buchstaben Goldstickerei. Wir wissen übrigens nicht, ob Georg Altdorfer in seiner Kapelle beigesetzt wurde. Er starb auf einer Reise zum Reichstag an einem Schlaganfall. Wie es mit Landshuts schönen Männern endete, zeigt ein weiteres Denkmal der Altdorferkapelle, das sich Georgs Bruder Hans, der Bau und Ausstattung der Kapelle für den Bischof betreute, dort für sich setzen ließ (DI 109 [Stadt Landshut] Nr. 167). Mit langen Schritten bewegt sich der Tod in Gestalt eines Skeletts auf den Betrachter zu, gerade im Begriff, den Bogen, auf dessen Sehne er schon einen Pfeil gesetzt hat, zum Schuss zu erheben. MEMENTO MORI mahnt das Bild den Betrachtenden. Dr. Christine Steininger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im BAdW-Projekt „Deutsche Inschriften des Mittelalters und der frühen Neuzeit“, das im Akademienprogramm finanzier t wird. A k a d e m i e A k t u e l l 51

1 9 3 0 w ä h l t e d i e N a t u r w i s s e n - s c h a f t l i c h e K l a s s e W i l l s t ä t - t e r z u i h r e m S e k r e t ä r . 1 9 3 3 v e r s c h w a n d W i l l s t ä t t e r s N a m e j e d o c h v o n d e r e n t s p r e c h e n - d e n S t e l l e i m A k a d e m i e j a h r - b u c h . m e l h a D - n i l r e B , t f a h c s l l e s e G - k c n a l P - x a M r e d v i h c r A : o t o F Geschichte Forschung Arisierung der Gelehrten- republik F r ü h j a h r 1 9 3 3 : N e u e r s c h l o s s e n e Q u e l l e n g e b e n e r s t m a l s E i n - b l i c k e i n d e n U m g a n g d e r B A d W m i t e i n e m i h r e r p r o m i n e n t e s t e n j ü d i s c h e n M i t g l i e d e r, d e m C h e m i k e r u n d N o b e l p r e i s t r ä g e r R i c h a r d W i l l s t ä t t e r . Vo n S t e p h a n D e u t i n g e r D as Verhalten gegenüber ihren jüdischen Mitgliedern während der NS-Zeit ist ein wunder Punkt im histo- rischen Selbstbewusstsein der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Er verweist schmerzlich auf die Brüchig- keit des Leitbilds einer nur auf wissenschaftliche Leistungen gegründeten Gelehrtenrepublik. Eine umfassende Aufklärung der seinerzeitigen Vorgänge ist deshalb gerade für eine Wissen- schaftsakademie eine Frage der Glaubwürdigkeit. Dem sind freilich durch Verluste in der schriftlichen Überlie- ferung Grenzen gesetzt. Nach den bisher bekannten Dokumen- ten behelligte die Akademie die „Nichtarier“ unter ihren ordent- lichen Mitgliedern nach 1933 zunächst nicht, sondern drängte sie erst nach der Reichspogromnacht vom 9./10. November 1938, politischen Druck weitergebend, zum Austritt. Die Mathema- tiker Alfred Pringsheim und Heinrich Liebmann, der Chemiker Richard Willstätter und der Indologe Lucian Scherman verließen am 14. November 1938 die Akademie. Aufgrund der ungünstigen Quellenlage hat man bisher jedoch nicht registriert, dass die 53

2.2023 Geschichte Forschung Georg Leidinger (1870–1945) war Münchner Bibliotheksdirektor und Mitglied im Akademievorstand. habilitierte er und machte sich als Mili- tärhistoriker einen Namen. Von 1928 an amtierte er als Syndikus der Akademie, bis er 1944 zusammen mit Präsident Karl Alexander von Müller abgeschoben wurde und in den vorgezogenen Ruhestand ging. Während des Zusammenbruches des „Dritten Reiches“ 1945 schrieb Frau- enholz Erinnerungen zur späteren Veröf- fentlichung nieder. Sie ruhen ungedruckt und ungelesen in seinem Nachlass. Dar- in bestätigt er den Vorgang: „Geheimrat Willstätter, der bekannte Physiker, war Jude und Abteilungssekretär in der Aka- demie der Wissenschaften. Als nun ein Erlass herauskam, der die Einsetzung von Juden in Aemter verbot, hielt ich es als Syndikus für meine Pflicht, ohne irgend jemand etwas zu sagen, zu Geheimrat Willstätter zu gehen und ihm diesen Erlass privatim zur Kenntnis zu bringen, damit er selbst, wenn er das wolle, von seinem Amt zurücktre- ten könne. Ich sagte ihm ausdrücklich, dass ich ohne Vorwis- sen des Präsidenten komme; amtierender Präsident war damals nach dem Tode von Goebel wieder Geheimrat Schwartz, der kein Freund der Juden war. Ich sagte Willstätter, dass ich ihm ganz privatim den Erlass zur Kenntnis bringen wolle, damit er selbst entscheiden könne, ob er freiwillig aus dem Amt scheiden, oder das Weitere abwarten wolle. Was er tun wolle, sei seine Sache; ich wollte nur ihm selbst und der Akademie Unannehmlichkei- ten ersparen und Niemand in der Akademie wisse von meinem Besuch bei ihm. Er benahm sich nicht ganz korrekt; denn er brachte die Sache in der nächsten Vorstandssitzung zur Spra- che und zwar nicht nur unter Berufung auf mich – was ich ihm nie verwehrt hatte –, sondern mit der Bemerkung, er sei über- zeugt, dass Geheimrat Schwartz hinter meinem Besuch stecke. Ich hatte ihm das Gegenteil versichert.“ Die Darstellung von Frauenholz, die er in Matrei in Osttirol ohne Zugriff auf Unterlagen verfasste, weist im Detail einige Unschärfen der Erinnerung auf. Natürlich war Willstätter kein Physiker, und auf den nach kurzer Amtszeit verstorbenen Karl von Goebel war als Akademiepräsident nicht Eduard Schwartz, sondern – ebenfalls nur für wenige Jahre – Leopold Wenger gefolgt. Im Übrigen aber ist der Bericht, wie der Abgleich mit Leidingers Notizen zeigt, offenbar korrekt. Seine ehrenhafte Absicht wird man Frauenholz, der ritter- lich-höfische Ideale kultivierte, vielleicht sogar abnehmen dür- fen. Er stand dem früheren bayerischen Königshaus nahe und fungierte seit 1923 als Hofmarschall des Prinzen Ludwig Ferdi- nand. Eine weltanschauliche Nähe zum Nationalsozialismus ist deshalb wenig wahrscheinlich; in die Partei trat er erst 1941 ein. Der „Erlass“, auf den Frauenholz reagiert haben wollte, war das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933. Es zielte auf die Entfernung aller „Nichtari- er“ aus dem öffentlichen Dienst. Auf seiner Grundlage musste die Akademie ihre jüdischen Mitarbeiter entlassen. Dass das Gesetz auch auf Amtsträger der Akademie Anwendung finden v i h c r a d l i B / n e h c n ü M k e h t o i l b i b s t a a t S e h c s i r e y a B : o t o F könnte, war kein abwegiger Gedanke. Es ist also durchaus möglich, dass Frauen- holz mit einer chevaleresken Geste Will- stätter tatsächlich die Handlungsfreiheit wahren wollte. „Unerhört“ fand Leidinger, der für sei- ne bedrängten jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger keinerlei Mitgefühl hegte, den Vorgang jedoch sicher nicht wegen seiner antisemitischen Tendenz. Er moch- te Frauenholz generell nicht und betrach- tete dessen Schritt als Eingriff in die Gerechtsame der Akademiemitglieder. Beeindrucken hätte jemanden wie Lei- dinger immerhin können, dass Willstät- ters „vaterländische Gesinnung“ über jeden Zweifel erhaben war. Willstätter hatte 1914 das berüchtigte „Manifest der 93“ unterzeichnet, das die deutsche Kriegsführung in Belgien rechtfertigte. 1917 war er für seine wissenschaftlichen Verdienste um die Kampfgasabwehr mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden. Das war ein entscheidender Unter- schied zum erklärten Pazifisten Albert Einstein, dessen Aus- schluss aus der Akademie zu betreiben der Vorstand wegen angeblicher antideutscher Hetze schon am 8. April beschlossen hatte (vgl. „Akademie Aktuell“ 2/2022). Aber Willstätter scheint vom Akademievorstand auf der Sit- zung vom 3. Mai 1933 keine Rückendeckung erhalten zu haben. Man muss das aus seiner Reaktion auf die Besprechung schlie- ßen, die Leidinger unter dem 15. Mai 1933 festhielt: „Vorstands- sitzung im Akademiepräsidium: Willstätter schickt einen Brief, durch den er seine Stelle als Klassensekretär niederlegt und aus allen Kommissionen der Akademie austritt.“ Willstätter war dem Rat seines Freundes Fritz Haber nicht gefolgt, keine Position frei- willig zu räumen, sondern entschied sich für das „Privatisieren“. In seinen Memoiren erwähnte er den Vorfall nicht; zu den Din- gen, die ihm „nach der Machtergreifung Hitlers“ nicht fehlten, zählte er aber ausdrücklich auch „die Sitzungen der Akademie mit meinen langweiligen Protokollen“. Seine Nachfolge als Klas- sensekretär trat der Physiker Jonathan Zenneck an. Nur acht Wochen nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Bayern war die Leitung der Akademie „arisiert“. Dr. Stephan Deutinger ist Akademischer Oberrat an der Kommission für bay- erische Landesgeschichte bei der BAdW. Eine ausführ- liche Fassung dieses Beitrags ist erschienen in der „Zeit- schrift für bayerische Landesgeschichte“ 85,2 (2022). Die BAdW lässt derzeit ihre Geschichte im 20. Jahrhun - der t im Rahmen eines Forschungsvorhabens untersuchen. A k a d e m i e A k t u e l l 55

2.2023 Akademie intern Otto-Warburg-Medaille 2023 für Erforschung des Proteoms H e r a u s r a g e n d e F o r s c h u n g e n v o n M a t t h i a s M a n n g e w ü r d i g t Eine der höchsten deutschen Auszeichnungen auf den Gebie- ten der Biochemie und Molekularbiologie ging in diesem Jahr an Matthias Mann. Er erhält die mit 25.000 Euro dotierte Otto- Warburg-Medaille für seine herausragenden Forschungen in der Proteomik. Das noch relativ junge Fachgebiet der Proteomik bestimmt und charakterisiert die Gesamtheit aller Proteine einer Zelle oder eines Organismus – das sogenannte Proteom. Aufgrund der Dynamik des Untersuchungsgegenstandes sind Analysen jedoch meist hochkomplex und sehr langwierig. Bedeutend vereinfacht hat sie das Analyseverfahren der Massenspektrometrie von Pro- teinen. Matthias Mann hat entscheidend zur Einführung dieses Verfahrens in die Proteomik beigetragen. Er gilt außerdem als ein Wegbereiter der individualisierten Medizin. Matthias Mann ist Direktor am Max-Planck-Institut für Biochemie in Martins- ried, Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Das Institute for Scientific Information listet ihn als einen der 250 meistzitierten Wissenschaftler in seinem Fachgebiet. Renommierte Auszeichnung für Diabetesforscher A m e r i c a n D i a b e t e s A s s o c i a t i o n e h r t M a t t h i a s Ts c h ö p Matthias Tschöp (Helmholtz Zentrum München/BAdW) erhielt als erster Deutscher für seine wissenschaftlichen Leistungen die Banting Medal for Scientific Achievement. Die höchste Auszeichnung der American Diabetes Association wur- de im Juni in San Diego verliehen. Matthias Tschöp hat bahnbre- chende Erfolge in der Diabetesforschung vorzuweisen. Neben dem von ihm entdeckten Hungerhormon Ghrelin fanden er und sein Kollege Richard DiMarchi die neue Wirkstoffklasse der Zwei- und Dreifach-Darmhormon-Medikamente, die Polyagonisten, deren erste Version 2022 in den USA zugelassen wurde. Mehr als zehn weitere Polyagonisten befinden sich in der klinischen Prü- fung und versprechen eine neue Ära der Stoffwechselmedizin. Erstmals können Übergewicht und Adipositas damit umfänglich behandelt und das Risiko, an Diabetes zu erkranken, deutlich reduziert werden. Millabo. Nonsequassim auda imint eostibe atiandit quias cus dolorpore quiderc hitatum A k a d e m i e A k t u e l l 57 l e / e i s : g n u l l e t s n e m m a s u Z h c i n u M z t l o h m l e H / r e g n u T s a i h t t a M ; O P E : s o t o F

2.2023 Im nächsten Heft: Politische Entscheidungen in der modernen Demokratie I m p re s s u m H E R A U S G E B E R Prof. Dr. Markus Schwaiger Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (BAdW) R E D A K T I O N Dr. Ellen Latzin (el; verantwortlich) Dr. Isabel Leicht (il) Gabriele Sieber (sie; Bildredaktion) Ruth Zapf (rz) V E R L A G U N D A N S C H R I F T Bayerische Akademie der Wissenschaften Alfons-Goppel-Str. 11, 80539 München Tel. 089/23031-1141, badw.de presse@badw.de, ISSN 1436-753X A R T D I R E C T I O N Studio Umlaut, studio-umlaut.com G R A F I K Daniela Wiesemann, danielawiesemann.de B I L D B E A R B E I T U N G Karin Martin D R U C K Landesamt für Digitalisierung, Breitband und Vermessung, Alexandrastr. 4, 80538 München P A P I E R SoporSet Premium Offset 120 gr/m², LuxoArt Samt 200 gr/m² Dialekt – zwischen Kulturerbe und Klischee Podiumsdiskussion Wer Dialekt spricht, bewegt sich mitunter auf dünnem Eis. Eine regionaltypi- sche Sprechweise wird aufgrund ihrer Lebendigkeit und unverkrampften Ver- bindlichkeit zwar geschätzt, zugleich gilt sie als ungebildet, rückständig. Gera- de in der jüngeren Generation sind Dialektismen aber auch wieder im Trend: Man trägt Lederhosn und Dirndl, der Bayerische Rundfunk zeigt vorabendliche Seifenopern im Dialekt, Grußformeln wie „Habe d’Ehre“ sind angesagt. Festzu- stellen ist also eine zwiespältige Resonanz des Dialekts im öffentlichen Raum. Dies wirft Fragen auf: Welche Zukunft hat der Dialekt zwischen Kulturerbe und Klischee? Warum ist es wichtig, dass sprachliche Vielfalt erhalten bleibt? Darüber diskutieren Staatsminister Albert Füracker, Prof. Dr. Hubert Klausmann (Tübingen), der SZ-Redakteur Hans Kratzer, Prof. Dr. Anthony Rowley (LMU Mün- chen/BAdW) und die Kabarettistin und Schauspielerin Franziska Wanninger. Es moderiert Joana Ortmann (SWR Fernsehen). Wann? Mittwoch, 13. September 2023, 19.30 Uhr Wo? Plenarsaal der BAdW, Alfons-Goppel-Str. 11, 80539 München Was noch? Auch im Livestream unter badw.de W d A B / r e b e i S . G ; y a b a x i p / 8 7 5 0 6 1 s a e r d n a : s o t o F „ A K A D E M I E A K T U E L L“ erscheint 3 x jährlich. Der Bezugspreis ist im Mitgliedsbeitrag der Freunde der BAdW enthalten. Die Texte dürfen nur mit Ge- nehmigung der BAdW reproduziert werden. Die Wiedergabe der Abbildungen ist mit den Inhabern der Bildrechte abzuklären. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung der Autoren wieder. Das E-Paper der Zeitschrift finden Sie auch unter badw.de. Z E I T S C H R I F T A B O N N I E R E N badw.de/die-akademie/presse/ zeitschrift-akademie-aktuell Johann Andreas Schmeller: Begrün- der der modernen Dialektforschung in Deutschland. A k a d e m i e A k t u e l l 59